Maria

Ich muss euch warnen, diese Geschichte ist nichts für zarte Nerven und vor allem nicht für Kinder.
Aber soweit ich gesehen habe, gibt es hier keine Minderjährigen.
Es geht um Krieg, Gewalt, sexuelle Gewalt, um den ganz normalen Wahnsinn, der jeden Tag irgendwo auf dieser Welt passiert. Leider.
Ich würde diese Geschichte gern veröffentlichen aber ich weiß nicht wer soetwas drucken würde.

Maria

Eisig bläst mir der Wind ins Gesicht. Die Kälte ist allumfassend, kriecht vom Beton, auf dem ich sitze, in mich hinein, füllt mich ganz aus. Tief in meinem Innern hat sie Wurzeln geschlagen und ich befürchte, sie wird mich nie wieder verlassen.
Doch sie hilft mir gegen die Müdigkeit, hindert mich daran, einzuschlafen. Ich muss nachdenken, eine Entscheidung treffen.
Vor mir, unterhalb der Brücke liegt die Stadt, die einmal meine Stadt war. Die letzten Monate schlugen tiefe Wunden in ihr Herz. Da, wo einst das Leben wohnte, ragen nur noch Ruinen von in den Boden gebombten Träumen in den Himmel.
Im Osten kann ich das Rot sehen, das der aufgehenden Sonne vorausgeht. Wenn die Sonne aufgegangen ist, wird die geschundene Stadt zum Leben erwachen, ihre Wunden lecken und neue Kräfte sammeln.
Doch dann werde ich nicht mehr hier sein.
Meine Familie lebte schon seit unzähligen Generationen in dieser Stadt. Zusammen mit den Anderen, den dicken und dünnen, den hellen und dunklen, den großen und kleinen gingen sie zur Schule, zur Arbeit, lachten und weinten.
Irgendwann entschieden gelehrte Männer, dass die Einen besser waren als die Anderen. Sie zogen Grenzen durch die Stadt und trennten so die Menschen, die zusammen gelacht und geweint hatten.
Aus den Grenzen wurden Gräben, immer breiter und tiefer, bis sie kein Mensch mehr überwinden konnte.
Zuerst flogen nur Worte darüber, dann Steine, später Bomben.
Eine dieser Bomben riss meinen Bruder in Stücke. Dabei trainierten seine Freunde und er nur. Die Anderen sagten, sie trainierten, wie man Menschen umbringt.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Bruder mit den lachenden Augen, der mir im Vorbeigehen das Haar zerzauste und mich zärtlich seine kleine Plage nannte, Menschen umbringen wollte.
Damals konnte ich mir so vieles nicht vorstellen.
In den Tagen der größten Trauer traf ich Cain. Cain war der beste Freund meines Bruders gewesen. Groß und stattlich war er. Alle meine Freundinnen waren in ihn verliebt und beneideten mich, weil er so oft an unserem Tisch aß. In jenen Tagen blickte ich zu ihn auf und träumte davon in seinen starken Armen zu liegen.
Ich war so naiv.
Cain zog mich an sich und ich dachte, er trauerte wie ich um meinen Bruder, waren sie doch wie zwei wahre Brüder gewesen. Doch ich hatte vergessen, Cain gehörte jetzt zu den Anderen.
Er brachte mich in ein Haus voller Männer, solchen wie er, vor Kraft und Leben strotzend.
Mit stolzgeschwellter Brust führte er mich vor. Wie eine Braut, dachte ich damals.
Wie unsagbar dumm von mir.
Dann zeigte er mir ein dunkles Zimmer. Was er dort zu mir sagte, begriff ich erst nachdem er mich geschunden und zerrissen verließ.
An diesen Tag zerfetzte er nicht nur mein Häutchen, das ich sorgsam für einen besonderen Anlass gehütet hatte, sondern er stieß mich auch in den Abgrund.
Von da an war mein Leben weniger wert als das einer Kakerlake.
Nach ihm kamen die anderen Männer, Stunde um Stunde, Tag um Tag.
Am Anfang schrie ich, biss und kratzte, doch darüber lachten sie nur und stießen trotzdem in mich hinein. Später dann weinte ich und bettelte sie an, dass sie mich gehen ließen, darüber lachten sie noch mehr. Irgendwann sagte ich gar nichts mehr.
Irgendwann kamen dann andere Männer und die brachten mich in ein Haus voller Soldaten.
Ihr Offizier fragte mich, ob ich die Männer wiedererkennen würde, und zeigte mir viele Bilder.
Doch ich konnte nur mit den Kopf schütteln, in der Düsternis des Zimmers waren ihre Gesichter nur dunkle Schatten gewesen und ich hielt meine Augen immer fest geschlossen, um ihre gierigen Blicke nicht sehen zu müssen.
Nur Cain, den hätte ich erkannt, doch der war auf keinem der Bilder zu sehen.
Ich sagte dem Offizier, dass ich die Männer am Geruch erkennen könne, doch er schüttelte nur ungläubig mit dem Kopf.
Am anderen Morgen erklärte mir der Offizier, das meine Mutter noch immer in ihren Häuschen am Stadtrand lebte und das draußen ein Auto stand, das mich nach Hause bringen sollte.
Weil ich wusste, dass dort nicht mehr mein zu Hause war, fragte ich den Offizier schüchtern, ob ich nicht bei ihnen bleiben könne. Ich nähme nicht viel Platz weg und zu essen bräuchte ich auch nicht viel. Und ich würde auch ganz still sein, wenn die Männer zu mir kämen.
Angewidert sah der Offizier mich an und sagte kategorisch: „Nein!“
Ich hätte es wissen müssen. Die Soldaten hier rochen alle so sauber und ich war doch noch weniger als eine Kakerlake.
Einmal fragte ich Cain, ob ich mich duschen könne. Da zerrte er mich lachend auf den Hof und spritzte mich unter dem Gegröle seiner Kumpel mit einem Gartenschlauch ab. Ob es mir denn gefallen habe, fragte er mich hämisch grinsend, bevor er mich tropfnass wieder in dem dunklen Zimmer einsperrte. Danach bat ich nie wieder um etwas.
Da ich nicht bei den Soldaten bleiben durfte, stieg ich zu ihnen ins Auto und ließ mich zum Haus meiner Mutter fahren. Langsam lief ich durch den Vorgarten, bis das Auto der Soldaten nicht mehr zu sehen war. Erst dann klopfte ich an die Tür.
Meine Mutter sah es mir sofort an. „Hure“, spie sie mir ins Gesicht und „Wer sich zu Abschaum legt, ist selbst Abschaum.“
Dann schlug sie mir ins Gesicht und spuckte mich an. Bevor sie die Tür vor mir verschloss, schrie sie: „Ich habe keine Tochter!“
Als die Soldaten mich dann Tage später unter einer Brücke schlafend fanden, nannte ich ihnen den Namen des Mädchens, welches kurze Zeit mit mir das dunkle Zimmer teilte.
Sie konnte nicht aufhören zu schreien, nachdem die Männer sie zu einer Kakerlake gemacht hatten. Einer von ihnen hat sie dann unter seinen schweren Stiefeln zerquetscht.
Diesmal brachten mich die Soldaten in ein Krankenhaus. Dort konnte ich mich duschen und in einen schneeweißen, sauberen Bett schlafen. Eine Krankenschwester gab mir die sauberen Sachen, die ich jetzt trage.
Am Anfang dachte ich, sie säubern mich für die gut riechenden Soldaten, und wartete die ganze Zeit darauf, dass sie mich abholten.
Anstelle der Soldaten kam eine nette Ärztin, die mich untersuchte. Sie fragte mich, ob ich wusste, dass in mir ein kleiner Mensch heranwächst. Tief in meinem Innern konnte ich es spüren, doch wahrhaben wollte ich es nicht.
Ihre freundlichen Worte trieben mir die Tränen in die Augen und weil sie es nicht verstand, erklärte ich es ihr.
Abschaum gebiert Abschaum.
Irgendwann werden sie mich und mein Baby erschlagen, die einen oder die anderen. Wir gehörten zu niemandem.
Später am Tage kam sie dann noch einmal zu mir und drückte mir einen dicken Umschlag in die Hände. Sie erzählte mir, dass sie in einem Land lebte, wo niemand den Anderen erschlug, nur weil er ein Anderer war. Der Umschlag enthielt die Fahrkarte für einen Zug, der mich in dieses Land bringen könnte. Dort könnte ich ein Leben ohne Angst aufbauen, müsste keine Kakerlake mehr sein. Und wenn ich mein Kind nicht lieben könnte, würde ich dort Menschen finden, die sich über ein Baby freuen würden.
Als ich sie fragte, ob ich Geld für mein Kind bekomme, sah sie mich ernst an und sagte, dass niemand einen Menschen kaufen oder verkaufen kann. Aber egal, ob mit oder ohne das Baby könnte ich dort die Schule fertigmachen, einen Beruf lernen, vielleicht sogar studieren. Ein ganz normales Leben leben.
Und nun sitze ich hier auf der Brücke unter mir der Fluss, ein Stück die Straße hinauf, der Bahnhof mit dem Zug.
Neben mir steht ein Rucksack, den die netten Frauen im Krankenhaus für mich gepackt haben. Ich traue mich nicht, ihn zu öffnen. Denn ich fürchte, dass die Zuversicht, die sie für mich eingepackt haben, entweicht, wenn ich ihn aufschnüre und mir dann nur noch die Hoffnungslosigkeit bleibt.
Steifgefroren erhebe ich mich von dem harten Beton. Ich muss mich entscheiden. Fluss oder Zug. Ewige Verdammnis oder eine Zukunft für mich und das Kind.
Mit klammen Fingern schwinge ich mir den Rucksack auf den Rücken. Wähle ich den Fluss, wird er uns in die Tiefe ziehen, wähle ich den Zug, wird er uns Zuversicht schenken.
Im Osten geht die Sonne auf. Meine Hand umkrallt das Geländer der Brücke. Wenn ich sie öffne, kann ich mich fallen lassen oder zum Zug laufen.

Finde ich gut geschrieben.

Wer so was drucken würde, weiß ich auch nicht, aber von der Thematik her (obwohl durchaus starker Tobak, aber eben siehe oben) sehe ich da eigentlich keinen Hinderungsgrund – im geeigneten Umfeld eben. Bloß frag mich nicht, was ich mir darunter vorstelle, ich habe nämlich keine Ahnung.

Die eine oder andere Leerzeile freilich könnte meines bescheidenen Erachtens nicht schaden.

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Hallo Ida!

Ich finde den Text auch gut, aber du musst eigentlich noch deutlicher werden. Warum schreibst du so verschämt, wenn die Männer so unverschämt sind? Mir ist da spontan der Missbrauch der koreanischen Frauen durch die japanischen Soldaten eingefallen. Da gab es mal in der Geo (glaube ich) einen Bericht, den ich gelesen habe. Die Veröffentlichung des Berichts ist bestimmt schon 20 Jahre her, aber er war sehr ergreifend und auch sehr explizit geschrieben. Die - mittlerweile sehr alten - geschundenen Frauen von früher haben versucht, bei der japanischen Regierung eine Entschädigung für ihre Qualen zu bekommen. Der Bericht beschrieb ihre vergeblichen Versuche, Gerechtigkeit zu erhalten. Viele koreanische Frauen wurden wohl auf diese Art, wie du sie beschreibst, in Löchern gehalten, bekamen auch Geschlechtskrankheiten, die mit brachialen Chemikalien behandelt wurden. Es war wohl pure Folter, so wie das der Bericht vermittelt hat. Ich finde, du könntest also ruhig noch ein wenig grausamer schreiben. Aber ich würde die Protagonistin nicht springen lassen. Sie sollte den Zug nehmen. Die Hoffnung darf nicht sterben.
Na, du hast es ja offen gelassen.

Dann habe ich noch eine Frage: Warum heißt deine Protagonistin Maria? Hat das etwas mit der Mutter Gottes zu tun? Wenn Autoren solche berühmten Namen nehmen, tun sie das nicht ohne Grund. Ist das so?

Liebe Grüße,
Vroni

PS: Wie das mit der Entschädigung für die koreanischen Frauen ausgegangen ist, weiß ich leider nicht.

Also, ich hab’s so verstanden, dass das eben nicht kämpferisch dargestellt sein soll, sondern vielmehr als Zeugnis einer abgrundtiefen Verzweiflung, der Auslöschung jedes Selbstwertgefühls.

Und so gesehen ist die Geschichte doch aufwühlend genug?

Ja, da hast du recht. Ist vielleicht auch dem geschuldet, dass ich gerade einen Ausflug in die erotische Schreiberei mache (der angenehmen). Und da weiß ich auch, dass ich am Anfang extreme Hemmungen hatte, etwas explizit hinzuschreiben. Mein Versuch ist sehr lehrreich, hat mir auch gezeigt, was möglich ist, ohne dass es abstoßend wirkt. Ist ein Erfahrungsausflug für mich.

Aber gerade wenn eine Frau so gemartert wird, wie in dieser Geschichte, dann denke ich, würde sie sich noch viel drastischer ausdrücken. Wie gesagt, diese koreanischen Frauen waren auch sehr verzweifelt in diesem Bericht und nahmen auch kein Blatt vor den Mund.
Und es ist nun mal der Ich-Erzähler, der hier spricht. Und als gemarterte Frau hätte ich einen Hass auf diesen Cain (ach ja, da ist ja noch ein biblischer Name), dass ich mit Sicherheit anders über ihn berichten würde.

Okay, liegt vielleicht auch daran, dass ich eine Kämpfernatur bin. :wink:
Ich habe ja auch nichts gegen den Text im Allgemeinen. Ich habe nur einen Verbesserungsvorschlag geben wollen, wo ich noch Potential sehen könnte. Ich habe nicht sagen wollen, dass es ohne diese Verbesserung nicht gut ist.

Liebe Grüße,
Vroni

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Ich wollte aber überhaupt nicht Deine Anregungen kritisieren, Vroni, die ich vollkommen verständlich und nachvollziehbar finde. Nur hatte ich eben den Ersteindruck, dass Ida es anders ausdrücken will.

Und auch ich hoffe ja inständig, dass Maria den Zug nimmt und eines nicht allzu fernen Tages mit frischem Mut zurückkehrt und die Wiederherstellung ihrer Menschenwürde einfordert.
Nur ist es zum Zeitpunkt dieser Handlung eben längst noch nicht so weit, und genau das ist das Drama, wie ich es aufgefasst habe.


Ida, Du siehst, Dein Text beschwört schon mal ein bisschen Diskussion herauf. Das mögen die Verleger! :wink:

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:thumbsup:

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Grundsätzlich gut geschrieben (ein paar Kleinigkeiten würde ich anders formulieren, aber das ist nicht so wichtig). Was ich allerdings dringend entfernen würde, sind zwei kleine Sätze, denen du sogar eigene Zeilen eingeräumt hast:

“Ich war ja so naiv.”
und
“Wie unsagbar dumm von mir.”

Diese Sätze verharmlosen. Sie klingen so, als ginge es um das unbedachte Öffnen eines virusverseuchten Email-Anhangs. Aber nicht um eine wochenlange Massenvergewaltigung. Außerdem liefern diese Sätze dem Leser ein vorschnelles Urteil, das ich ihm an dieser Stelle noch vorenthalten würde. Es wirkt viel stärker, wenn das Schreckliche ganz langsam Konturen gewinnt, wenn die Phantasie des Lesers von allein drauf stoßen muss, bevor es ihm klar gesagt wird.

Gruß, Fitzli