Malotzkes Grab

Der Pfarrer hielt eine kurze Standardrede. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, denn über Malotzke gab es nicht viel zu sagen. Er war ein mickriger Kerl mit stets verschmierter Brille und einer Politikerfrisur. Irgendeine Verwandte hatte sich um seine Beerdigung gekümmert, es aber nicht für nötig gehalten, zu seinem Begräbnis zu erscheinen. Überhaupt war niemand da außer mir.

„Sie sollten das nicht tun!"

„Was soll ich nicht machen?"

„Mischen Sie sich nicht ein. Vergessen Sie ihn am besten einfach."

Er sprach in Rätseln, als wir in dem kleinen Café saßen. Erst fand ich es nett, dass der Pfarrer mich zu Kaffee und Kuchen eingeladen hatte. Bis eben war ich jedoch in dem Irrglauben, dieser Kirchenmensch sei berührt von der Tatsache, dass es nur einen einzigen Trauergast gab. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen. Mitgefühl und Kirche passen schon seit den Kreuzzügen des christlichen Abendlandes nicht mehr zueinander.

„Zweifeln Sie nicht! Glauben Sie! Es ist besser, Willi Malotzke zu vergessen."

Wortlos stand ich auf und ging. Ich hatte keine Lust, über etwas zu diskutieren, dessen Bedeutung mir nicht im Geringsten klar war. Zuhause setzte ich mich ratlos in die Küche, Mantel und Schuhe noch an und fummelte an meinem Smartphone herum in der Hoffnung auf eine wunderbare Entdeckung in den Unweiten des mobilen Internets. Ein Wunder blieb aus. Stattdessen hielt das Nachrichtenportal schreckliche Enthüllungen über noch schrecklichere Würdenträger bereit.

So, wie ich war, schlief ich am Küchentisch ein. Es war ein unruhiger Schlaf voller verwirrender Bilder. Tebartz schwebte im Vampirkostüm durch hundert Meter lange Gänge, die mit Geldscheinen und Steuerbescheiden tapeziert waren. Vergoldete Toiletten wirbelten umher. In die Keramik war „T.v.E." eingebrannt. Malotzke tauchte plötzlich auf, gefolgt von einer Handvoll kleiner Jungen. Sie trugen dicke Jacken. Tiefe Falten durchzogen ihre blassen Gesichter. Mit winzigen Händchen versuchten sie, so gut wie möglich die nackte Haut unterhalb der Jacken abzudecken.

Mein Smartphone weckte mich mit dem Soul Asylum-Klassiker „Runaway-Train".

„So tired that I couldn’t even sleep

So many secrets I couldn’t keep

Promised myself I wouldn’t weep

One more promise I couldn’t keep"

Unter fürchterlichen Nackenschmerzen zog ich endlich Mantel und Schuhe aus und machte mir einen Kaffee. Er schmeckte nicht. Ich legte mich auf die Couch, starrte an die Decke. Leider war ich viel zu müde, um einzuschlafen. Der Punkt war überschritten. Es dämmerte ohnehin schon. Kurze Zeit später machte ich mich auf den Weg zum Friedhof. Wenn ich ehrlich bin, wollte ich nachsehen, ob die Beerdigung tatsächlich stattgefunden hatte. Es schien alles so irreal.

Malotzkes Grab war armselig. Mein Kranz lag dort, sonst nichts. Wenn man von einer kleinen, weißen Schachtel absah. Es war noch früh. Daher befand ich mich völlig allein auf dem Areal der Toten. Dennoch blickte ich kurz nach rechts, dann nach links. Ich wollte von niemandem gesehen werden, hatte ich doch vor, mir etwas anzueignen, das mich absolut nichts anging. Ich bückte mich und merkte, dass sich allmählich mein leicht fortgeschrittenes Alter dann doch bemerkbar machte. Vorsichtig schob ich die weiße Schachtel auf. Ein ungleichmäßig geformtes Knöchelchen kam zum Vorschein. An der einen oder anderen Stelle war es leicht vergilbt. Ich war zwar kein Experte, aber mir wurde doch schnell klar, dass es sich nur um eines handeln konnte: einen menschlichen Zahn. Hektisch schob ich die Schachtel wieder zu und steckte sie in meine Manteltasche.

Zuhause angekommen stellte ich sie auf das Küchenregal und mich selbst unter die Dusche. Meine Sachen waren überall auf dem Boden zwischen Küche und Bad verstreut. Ich hatte sie einfach an Ort und Stelle fallen lassen. Der Pfarrer ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Welche Geheimnisse umgeben ihn? Warum soll ich Malotzke vergessen? Was hat das Ganze mit Glauben zu tun? Wieso war niemand außer mir auf der Beerdigung? Und wie kommt ein Zahn auf ein frisches Grab, so platziert, dass ich ihn unweigerlich finden muss? Offene Fragen, keine Antworten. Eine Linderung meiner inneren Unruhe durch die heiße Dusche blieb leider aus.

Am nächsten Tag ging ich wieder zur Ruhestätte der toten Körper. Es war kalt. Ein Duft von süßem Parfüm streifte mich. Ich war nervös, fühlte mich verfolgt, lief schneller. Nur noch zehn Meter bis zu Malotzkes Grab. Aus irgendeinem Grund wähnte ich mich in Sicherheit, sobald ich bei meinem verstorbenen Nachbarn angekommen wäre. Schließlich blieb ich stehen. Das Parfüm war verflogen. Ängstlich sah ich mich um. Eine schwarz gekleidete Gestalt eilte davon. Sie war bereits am Ende des Weges angekommen. Ich rannte los, erreichte sie jedoch nicht mehr. Am Wegrand entdeckte ich einen Stofflappen, den ich unter großer Atemnot aufhob. Ohne ihn näher zu betrachten ließ ich ihn in meiner Manteltasche verschwinden.

Den Briefkasten hatte ich ewig nicht geleert. Diese ganze Werbung ging mir fürchterlich auf den Geist. Wer braucht heute noch so viel Papier? Käseblättchen sind ohnehin das allerletzte, null Information oder während des Druckes bereits veraltet. Beim Aufschließen der Wohnung fiel mir der komplette Zeitungsberg aus der Hand. Ein Papierkügelchen rollte durch den Hausflur. Ich nahm es mit in meine Wohnung. Den restlichen Kram ließ ich im Flur liegen. Malotzke war ja nun nicht mehr da, um sich über Unordnung im Hausflur aufregen zu können. Alle anderen Nachbarn interessierte sowieso nichts. Sie grüßten nicht einmal, machten aber auch nie Ärger.

Da saß ich nun am Küchentisch, ratlos wie nie zuvor und starrte auf meine Fundstücke. Den Zahn ließ ich in der Schachtel. Er widerte mich an. Der Stofflappen, den ich hektisch auf dem Friedhof in meine Manteltasche gestopft hatte, war ein gerippter Kinderslip mit Eingriff. Er muss aus den 1970er Jahren gewesen sein. Und dann war da noch das Papierkügelchen, welches ich mittlerweile vorsichtig auseinandergewickelt hatte. „Happy Weekend" war dort zu lesen. Gleich darunter der winzige Teil einer alten Anzeige: „… nackt im Beichtstuhl. Sollten uns wieder …, W.M."

Ob „W.M." wirklich mein Nachbar war? Was hatte mir der Pfarrer kurz nach der Beerdigung gesagt? Ich solle ihn vergessen und mich nicht einmischen? Ich war fassungslos als sich in meinem Kopf Spuren von Informationen, mein eigenartiger Traum und bloße Ahnungen zu einem erschreckenden Bild zusammen setzten.

Die Friedhofsverwaltung war außerordentlich nett, mir Auskunft darüber zu geben, welches Bestattungsunternehmen Malotzkes Beerdigung durchgeführt hat. Ich machte mich daher umgehend auf den Weg zum Beerdigungsinstitut. Dort erfuhr ich den Namen des Pfarrers mitsamt seiner Adresse.

Unter dem Vorwand, mich entschuldigen zu wollen suchte ich ihn auf.

„Aber Sie waren doch nicht unhöflich. Ich bitte Sie. Es ist ja nur verständlich. Schließlich habe ich Sie nach der Beerdigung irgendwie überfallen."

„Stimmt. Das haben Sie. Möglicherweise nicht nur mich."

Der Pfarrer wurde nervös: „Es war nicht meine Schuld. Er hat damit angefangen."

Beinahe unhörbar leise fragte ich nach: „Wer? W.M.?"

„Ja, ja, ja. Wenn ich es Ihnen doch sage."

„Und der Zahn?"

„Sie wissen davon?" Ich hatte nicht damit gerechnet, den Pfarrer dermaßen in Erstaunen zu versetzen. Zwar wusste ich immer noch nicht, worum es genau geht, aber der Zahn war offenbar ein Volltreffer. Jetzt musste ich alles auf eine Karte setzen: „Ich weiß es und ich habe auch die Unterhose."

Der Pfarrer schrie mich plötzlich an: „Raus, raus, raus! Verschwinden Sie! Ich habe Ihnen gleich gesagt, dass Sie sich nicht einmischen sollen. R A U S!"

Da stand ich. Mitten auf dem Bürgersteig. Ratlos. Ich musste wieder an Tebartz in seinem Vampirkostüm denken, als mir jemand sanft ins Ohr hauchte: „Lust auf ein Bier?" Der Lärm des Verkehrs verklang im Nichts, mein Atem weigerte sich, den Brustkorb zu verlassen. Langsam drehte ich mich um. Es war die Gestalt vom Friedhof. Sie ging los. Ich folgte ihr.

Wir saßen in der kleinen Eckkneipe. „Wer sind Sie und was wollen Sie von mir? Warum verfolgen Sie mich?" Sie schwieg. „Sie waren auf dem Friedhof. Das waren Sie doch. Geben Sie es zu!" Kein Wort von ihr. „Warum führen Sie mich hierher und sagen dann nichts? Reden Sie gefälligst!"

Ihre Stimme war sanft. „Entschuldigen Sie bitte. Ich weiß einfach nicht, wo ich anfangen soll." Sie winkte die Bedienung heran und bestellte sich noch einen Cognac zu ihrem Bier. „Mein Onkel hatte kaum Freunde. Er war streitsüchtig und kontrollierte gern seine Umwelt. Schließlich akzeptierte keiner mehr aus der Familie seine selbstsüchtige Art. Jeder wendete sich ab. Er wurde nicht einmal mehr zu Weihnachten eingeladen. Aber er war kein schlechter Mensch, jedenfalls nicht so einer." Malotzkes Nichte verwirrte mich.

„Und was wollen Sie nun von mir?"

„Ich dachte, Sie wären ein Freund. Weil Sie doch zur Beerdigung gegangen sind."

„Woher wissen Sie das?"

„Ich habe Ihren Kranz gesehen. Da hatte ich angenommen, dass Sie dort waren."

„Schön. Und sonst? Was meinen Sie mit jedenfalls nicht so einer?"

Nach einem weiteren Cognac erzählte Sie mir einfach Unglaubliches. Willi Malotzke habe sich sein eigenes Grab geschaufelt. Daran sei kein Zweifel. Sie habe ihn zwar nicht oft gesehen und kenne ihn daher kaum. Mittlerweile sei sie aber davon überzeugt, dass er zu viel wusste. Nicht nur das. Er sei eben der Typ Mensch gewesen, der sein Wissen gezielt einsetzte. Ich verstand immer weniger, war aber froh, dass ich lediglich hin und wieder mit ihm wegen schmutziger Schuhe im Hausflur aneinandergeraten war.

Endlich kam sie zum Punkt. „Einem Jungen hat er einen wackeligen Zahn herausgerissen. Er hat ihm damit gedroht, andere Zähne, die nicht wackeln, auszuschlagen, wenn er seiner Mutter etwas sagt. Warum ich Ihnen den Slip auf den Weg gelegt habe, können Sie sich ja nun denken. Alles, was er den Kleinen angetan hat, hat er sozusagen im Namen des Herrn gemacht. Er hat das Vertrauen der Kinder missbraucht. Leider nicht nur ihr Vertrauen. Helfen Sie mir, bitte!"

Ich war entsetzt. Anscheinend gibt es wohl nichts mehr auf dieser Welt, das der Gesellschaft heilig ist. „Verstehe ich Sie richtig, dass Ihr Onkel kleine Jungs, na ja, sexuell? Nein! Oder doch?"

„Sie begreifen es immer noch nicht. Es geht um den Pfarrer. Und es liegt schon lange zurück. Mein Onkel hätte nicht in der Vergangenheit wühlen sollen."

Endlich verstand ich. Deshalb war der Pfarrer so aggressiv geworden, als ich ihn auf meine Fundstücke angesprochen hatte. Leider war mir aber immer noch unklar, wobei ich Malotzkes Nichte überhaupt helfen sollte.

„Mir wäre es lieber, das Ganze woanders zu besprechen." Sie hatte Recht. Allerdings wollte ich sie nicht zu mir nach Hause einladen. Zu ihr wollte ich auch nicht. Zumal sie außerordentlich attraktiv und ich sicherlich dreißig Jahre zu alt für sie war. Um einen klaren Kopf zu bewahren war es besser, sich auf neutralen Boden zu begeben. Also schlug ich Malotzkes Wohnung vor. Sie war unheimlich. Das war keine Wohnung, sondern ein Museum. Nichts lag herum. Es gab kein einziges Staubkörnchen. Die Luft war unerträglich trocken. Und trotzdem roch es muffig. Der Geruch passte zu Malotzkes verschmierter Brille. Er war ein widerlicher, kleiner Kerl.

„Ich weiß, dass ihn der Pfarrer umgebracht hat. Mein Onkel hat ihn erpresst." Sie gab mir jede Menge Briefumschläge. „Lesen Sie!" Es war erschreckend. In einem der Umschläge befand sich auch eine Kopie der Anzeige, die ich in meinem Zeitungsstapel als Papierkügelchen gefunden hatte. Malotzkes Nichte bestand darauf, dem Pfarrer das zu geben, was er verdient. Sie bettelte mich geradezu an, in einer gewissen Weise aktiv zu werden, weil sie allein nicht den Mut dazu aufbrachte.

Ihr Onkel hatte einen Vorteil aus seinem Wissen gezogen. Doch wen trifft die größere Schuld? Denjenigen, der sündigt oder denjenigen, der sich eigenmächtig als Richter aufspielt.

Die schwere Erkrankung des selbsternannten Richters ebnete seinem Henker den Weg. Ein Schuss mitten ins Herz hätte nicht wirkungsvoller sein können. Der Entzug von Insulin in Kombination mit einem stickigen Raum und zu viel Weihrauch war absolut perfekt, um einen Diabetiker loszuwerden, der nicht nur seiner Familie den letzten Nerv geraubt hatte. Wer hätte gedacht, dass ihm ausgerechnet ein Beichtstuhl zum Verhängnis geworden war?

Aw: Malotzkes Grab

Hallo Suse,

Es tut mir sehr leid, aber bin ich von der Kurzgeschichte nicht überzeugt. Die Erklärung, warum ich nicht begeistert bin, wird recht lang. Aber ich versuche mir wirklich Mühe mit der Begründung zu geben. Vielleicht hilft dir das ja, falls du Verbesserungen anstrebst.

In sprachlicher Hinsicht stolperst du meiner Meinung nach vor allem über die Verwendung des Plusquamperfekts. Z.B. im letzten Absatz. Der letzte Satz steht im Plusquamperfekt, der Rest nicht. Aber da dies eine Rekapitulation bereis geschehener Ereignisse ist, müsste das alles in derselben Zeitform stehen. Es gibt noch einige Kleinigkeiten hier und da.

Bevor allerdings irgendjemand in die sprachlichen Details geht, sollte der Inhalt stimmig sein. Deshalb springe ich lieber gleich auf diesen Aspekt der Geschichte.

Mir gefällt das Thema und mir gefällt auch der Storyansatz: Mann erpresst Pfarrer wegen sexuellen Missbrauchs kleiner Jungen und wird von diesem dann irgendwann ermordet.

Worüber ich zuerst gestolpert bin: das Wort «Pfarrer». Die Verwendung des Wortes ist kein Fehler. Wirklich nicht. Aber der Begriff - so meine ich - wird beim durchschnittlichen Leser eher mit den lutheranischen Kirchen in Verbindung gebracht. Und ich VERMUTE, dass du eigentlich die katholischen Missbrauchsvorwürfe als Thema nehmen wolltest. Das vermute ich, weil du am Ende den Beichtstuhl erwähnst, der in den reformierten Konfessionen ungewöhnlich wäre.

Nun gibt es zwar auch in der katholischen Kirche Pfarrer, doch diese müssen zugleich auch Priester sein und ich persönlich fände es sauberer formuliert, wenn du Priester schreibst und nicht Pfarrer.

Das war jetzt das harmlosere Problem. Einschneidender empfinde ich das Problem, dass ich die Motivationen der einzelnen Akteure in der Geschichte nicht verstehe.

  1. Der Pfarrer:

Aus dem Nichts heraus, vollkommen unmotiviert ja willkürlich fordert er den Ich-Erzähler auf, den Malotzke zu vergessen. «Mischen Sie sich nicht ein!», sagt er dann auch noch.

Worin sollte sich der Ich-Erzähler denn einmischen? Er war auf der Beerdigung und es gab einen Leichenschmaus in einem Cafe. Na und? Was hat denn der Pfarrer erwartet, was bei einer Beerdigung geschieht? Dass da keiner kommt?

Zwar wird im späteren Verlauf der Geschichte klar, was der Pfarrer meinte. Aber dennoch hatte er überhaupt keinen Grund, diese Dinge zu diesem Zeitpunkt auszusprechen und schlafende Hunde zu wecken. Ich kann das noch nicht einmal als vorauseilende Vorsichtsmaßnahme verstehen, weil der Ich-Erzähler nichts getan hat, was bei einer Beerdigung nicht zu erwarten gewesen wäre. Gar nichts!

Auch im zweiten Gespräch springt er für mich vollkommen ohne Anlass sofort in die Falle. Natürlicher wäre es auf den Satz «Möglicherweise nicht nur mich» zu fragen: «Was meinen Sie?»

Ich finde diesen Dialog extrem konstruiert. Wenn sich der Pfarrer aufgrund innerer Schuldgefühle nicht eigentlich zutiefst wünscht, endlich erwischt zu werden (was man ja einigen Serienmördern nachsagt), sollte seine Reaktion von Anfang an anders ausfallen. Außerdem: Hätte er dann einen geplanten Mord begangen? Nein. Insofern wäre es logischer, wenn er von Anfang an jeden Vorwurf von sich weist und nicht damit beginnt, Schuldfragen zu diskutieren.

Zudem: Wenn er schon anfängt, die Schuld von sich zu schieben, dann geht er ja davon aus, dass der Erzähler weiß, worum es geht. Deshalb verstehe ich sein Erstaunen nicht, als er mit dem Zahn und der Unterhose konfrontiert wird.

Zu guter Letzt: Wieso ermordet er den Malotzke überhaupt? Ich könnte das ja nachvollziehen, wenn damit die Erpressung vom Tisch wäre. Aber das ist sie auf keinen Fall. Aus dem Text geht hervor, dass der Pfarrer die Beweisstücke Malotzkes kennt, die dieser gegen ihn verwendet. Der Mord hat - und so ist es ja auch geschehen - diese nur in andere Hände gegeben. Ein Mord ohne gleichzeitige Beweismittelbeseitigung ist damit für mich vollkommen sinnfrei. Also irgendwie finde ich das Motiv unrund - zumindest für einen absichtlichen, geplanten Mord. Als Impulstat (vor Wut, im Streit …) würde das besser passen. Aber dann natürlich nicht mit diesen Mitteln und an diesem Ort.

  1. Die Nichte:

Sie verstehe ich am wenigsten. Sie lässt einen Zahn auf dem Grab zurück und eine Unterhose auf die Erde fallen. Sie gibt also Beweisstücke aus der Hand (auf die sie ja offenbar Zugriff hatte), um was zu erreichen? Den Ich-Erzähler neugierig zu machen?

Und warum will sie ihn überhaupt mit diesen seltsamen Mitteln neugierig machen? Warum geht sie nicht auf ihn zu? Schüchternheit kann ich nicht gelten lassen, denn am Ende ist sie ja trotzdem noch diejenige, die ihn anspricht und einlädt.

Besser wäre (wenn du es sie das alles schon so seltsam handhaben lassen willst), dass es letzten Endes der Erzähler ist, der auf sie zugeht und sie anspricht. Das würde mehr Sinn ergeben, weil sie dann diese kleinen Gegenstände sozusagen als Anlass bzw. Motivation für IHN platziert, sich mit ihr zu unterhalten.

Verwirrt hat mich auch ihre Örtlichkeitswahl. SIE war es, die ihn eingeladen hat und den Ort bestimmte. Und dann sagt sie: Ich will aber nicht hier darüber reden? Wenn du den Ort verlagern willst, dann lass sie sagen, dass sie noch mehr Beweise hat. Aber nicht hier.

Und was will sie eigentlich von ihm? Das «dem Pfarrer zu geben, was er verdient» ist nicht nur pauschalisiert formuliert (soll der ihr vollkommen unbekannte Ich-Erzähler ihn umbringen, foltern, die Genitalien abschneiden? Oder was meint sie mit «in gewisser Weise»), sondern durch die indirekte Rede im Text auch so in die Bedeutungslosigkeit verzerrt, dass ich das sogar beim ersten Lesen überlesen habe.

Ich muss aber aufgrund dieser Ausdrucksweise davon ausgehen, dass sie etwas Illegales von dem Ich-Erzähler erwartet.

Aber Warum??? Mir haben sich hier wirklich mehrere Fragezeichen auf die Stirn gebrannt. Was hindert sie, zur Polizei zu gehen und den Mord überprüfen zu lassen? Das hätte schon vor der Beerdigung geschehen können, wenn sie die Beweismittel für die Erpressung vorgelegt hätte, wäre das sicherlich kein Problem gewesen.

Oder findet sie, dass eine Haftstrafe nicht genug für einen Mörder und Kinderschänder ist?

Mir fehlt da einfach Substanz in ihrem Charakter und ihn ihrer Motivation. Das ist mir aus Lesersicht zu schwammig, was da in ihr vorgeht.

Davon abgesehen ist es doch ganz schön vermessen, von einer wildfremden Person SO etwas zu erwarten oder überhaupt darum zu bitten. Nicht nur, dass das Anstiftung zu einer Straftat ist (und er könnte sie für den Versuch anzeigen). Wie kommt sie überhaupt darauf, dass jemand zu so etwas bereit sein könnte? Selbst bei der Annahme von Freundschaft zwischen Malotzke und dem Erzähler?

  1. Der Ich-Erzähler:

Nun hat der Pfarrer im ersten Gespräch also seltsame Dinge gesagt. Aber ehrlich gesagt, fand ich die Worte des Pfarrers jetzt nicht SOOOO aufwühlend oder neugierig machend, dass mich das nun so schrecklich beschäftigt hätte. Mit Traum, mit ständiger Grübelei. Ich finde die Vorgeschichte nicht bissfest genug, um diese Nachdenklichkeit wirklich nachempfinden zu können (aus meiner Lesersicht). Ich hätte über den Kerl einfach nur den Kopf geschüttelt und wäre meiner Wege gegangen.

Und da du mich nicht davon überzeugen konntest, dass er übernatürliche Fähigkeiten besitzt, finde ich auch den Traum mit den Knaben etwas weit hergeholt.

Anders wäre es gewesen, wenn der Zahn/die Unterhose schon zur Beerdigung auf dem Grab gelegen hätte und der Pfarrer vielleicht sogar gesehen hat, wie der Ich-Erzähler ihn einsteckt. DANN nämlich hätte es genug Grund zum Grübeln gegeben, und die Sätze des Pfarrers wären durch Angst und Panik motiviert gewesen.

Unabhängig davon habe ich nicht so richtig verstehen können, warum der Ich-Erzähler überhaupt zu dieser Beerdigung geht. Befreundet waren sie ja nicht. Wusste er, dass sonst niemand erscheint, und wollte er seinen ihm unsympathischen, widerlichen Nachbarn die letzte Reise nicht allein antreten lassen? Ich finde, du solltest das ausarbeiten, um dem Leser den Ich-Erzähler näherzubringen. Im Moment fehlt mir jeder emotionale Bezug zu ihm. Ich finde ihn sogar eher unsympathisch, weil er recht ruppig mit der Nichte redet, bevor er überhaupt weiß, worum es geht, und sich gleichzeitig Gedanken über sexuelle/beziehungstechnische Angelegenheiten macht, ohne dass irgendein Anlass dazu besteht. (Denn dass sie ihn zu sich eingeladen oder irgendwelche Avancen macht hat, steht nicht im Text. Er lehnt es nur von sich aus innerlich schon ab).

Ab dem Absatz «Ihr Onkel hatte einen Vorteil aus seinem Wissen gezogen. Doch wen trifft die größere Schuld? Denjenigen, der sündigt oder denjenigen, der sich eigenmächtig als Richter aufspielt» bin ich inhaltlich verwirrt.

Welches moralische Dilemma hinterfragt er da eigentlich gerade?

a) Meint er den Schuldvergleich zwischen Erpressung und Kinderschändung?

Dafür spricht der Satz am Anfang, der sich auf die Handlung des Onkels bezieht. Dagegen spricht die Bezeichnung «Richter». Der Onkel war doch kein Richter, indem er erpresste. Wenn du das meinst, dann verwirrt mich dein Rechtsverständnis. Ein Richter urteilt/verurteilt. Im Zweifel könnte man noch die Vollstreckung dazurechnen (also die Umsetzung des Urteils). Aber ein Richter erpresst doch nicht. Falls doch, dann ist das ein Problem spezieller Art, das aber nichts in dieser Geschichte zu tun hat, sondern das Rechtssystem hinterfragt.

Oder

b) Meint er den Schuldvergleich zwischen Kinderschändung/Mord durch den Pfarrer und den Mord, zu dem der Ich-Erzähler durch die Nichte aufgefordert wurde?

Dafür spricht, dass sie genau das will: Der Ich-Erzähler soll dem Pfarrer ja das geben, was dieser verdient. Er soll also Richter spielen. Die Moral-Frage ist berechtigt und gut! In meine Augen ist diese Frage die logische Konsequenz dieses gesamten Textes. Der Ich-Erzähler erfährt von den Untaten zweier Personen und steht vor der Frage, ob er eigentlich besser ist, wenn er der Aufforderung der Nichte nachkommt.

Aber dass du das wirklich so gemeint hast, muss ich aufgrund des letzten Absatzes bezweifeln. Denn hier bezeichnest du plötzlich den Onkel als Richter und den Pfarrer als Henker. Außerdem spricht dagegen, dass du vor den Satz mit dem moralischen Dilemma den Satz mit «Ihr Onkel hatte einen Vorteil aus seinem Wissen gezogen» schreibst. Absätze sind Gedankenstrukturen und indem du das zusammen in einen Absatz wirfst, verknüpft man als Leser die aufgeworfene Frage mit Malotzke.

Schade.

Die Aufklärung im letzten Absatz gefällt mir übrigens überhaupt nicht. Woher kommt das Wissen, wie der Mord verlaufen ist? Wenn das so offensichtlich auf der Hand liegt, dann wäre die Polizei doch wohl wirklich der logische Ansprechpartner gewesen. Lass das die Nichte lieber vermuten, anstatt dies am Ende durch den Erzähler als Tatsache zu behaupten.

Ich hoffe, du kannst nachvollziehen, wieso ich bei den Charakteren Motivationsprobleme sehe. Das heißt nicht, dass du nicht alles gut durchdacht hast. Eventuell ist der Plan, der deiner Geschichte zugrunde liegt, super ausgearbeitet und schlüssig. Vielleicht aber braucht deine Geschichte einige Ausführungen mehr, um dieses Konzept von dir so zu vermitteln, dass der Leser (oder zumindest ich als einer der Leser) die Geschichte rundherum schlüssig findet. Dann nämlich - so glaube ich - kann sie aufgrund der Thematik und des Lösungsansatzes, ja sogar aufgrund eines möglichen, moralischen Dilemmas wirklich, wirklich gut werden.

LG

Rabenvogel

Aw: Malotzkes Grab

Hallo,

herzlichen Dank. Die Hinweise sind alle brauchbar. Ich werde die Geschichte entsprechend überarbeiten.

LG

Suse

Aw: Malotzkes Grab

Hallo Rabenvogel,

ich habe die Geschichte überarbeitet und dabei absichtlich einige Fragen offen gelassen. Zum Beispiel hat mir nicht mehr gefallen, auf welche Art und Weise Malotzke umgebracht worden ist. Für die Geschichte ist dies eigentlich auch unwichtig, glaube ich zumindest. Ich hoffe, dass “Malotzkes Grab” nun ansprechender ist.

Herzlichen Dank für die Kritik.

Suse


Endlich. Der Priester fühlte sich befreit, obwohl ihm noch der letzte Schritt bevorstand. Er konnte Malotzkes Beerdigung kaum abwarten. In Gedanken ging er die morgige Bestattung durch: eine kurze Standardrede, ein halbwegs betrübter Blick, das Hinablassen des Sarges, Schluss, aus, keine Alpträume mehr. Stattdessen Stillschweigen auf immer und ewig. Zuversichtlich schlief er vor dem Fernseher ein. Doch schon bald schwebte Tebartz im Vampirkostüm durch hundert Meter lange Gänge, tapeziert mit Geldscheinen und Steuerbescheiden. Vergoldete Toiletten wirbelten umher. In die Keramik war „T.v.E." eingebrannt. Eine Handvoll kleiner Jungen tauchte unverhofft auf. Sie trugen dicke Jacken. Falten durchzogen ihre blassen Gesichter. Mit winzigen Händchen versuchten sie, ihre nackte Haut unterhalb der Jacken abzudecken. Dahinter stand Malotzke. Mit diabolischer Mine sagte er zum Priester gewandt: «… womit wir uns von Ihnen verabschieden.» Der Priester erschrak, war für einen Moment hellwach, schleppte sich aber schließlich erschöpft ins Bett. Der Radiowecker quälte ihn nach einer kurzen Nacht mit schrecklichen Enthüllungen über noch schrecklichere Würdenträger.

Ich machte mich auf den Weg zum Friedhof. Über Malotzke gab es nicht viel zu sagen. Er war ein mickriger Kerl mit stets verschmierter Brille und einer Volksvertreterfrisur. Ich mochte ihn nicht. Andauernd hatte er sich wegen der Unordnung im Hausflur aufgeregt. Dabei ging es meist nur um so Kleinigkeiten wie einen heruntergefallenen Kassenzettel, den niemand aufhob oder um ein paar Werbeblättchen. Wenn ich ehrlich bin, ging ich nur zur Beerdigung, weil ich neugierig war, ob er Freunde gehabt hatte. Besucher waren jedenfalls nie bei ihm gewesen.

Es gab nur wenige Trauergäste. «Unser Mitbürger, …, der sich immer engagiert hat, auch in Belangen, die vielleicht eben nicht immer, … aber, … ist den Pflichten nachgekommen, weil …»

Die Rede war armselig, vergleichbar mit dem Abgesang auf einen unliebsamen Politiker. Meine Blicke schweiften zu den Anderen. Sie verschmolzen mit der nichtssagenden Rede des Priesters zu einer unpersönlichen Masse, von der sich die Frau schräg gegenüber abhob. Sie weinte.

Als einziger warf ich ein paar Brocken Erde auf das Grab. Ein Duft von süßem Parfüm streifte mich. Die Frau stand jetzt direkt neben mir. Wortlos drückte sie mir ein Stück Papier in die Hand.

Zuhause setzte ich mich ratlos in die Küche, Mantel und Schuhe noch an. Ich starrte auf den Zettel, auf dem lediglich eine Telefonnummer notiert war. Im Radio lief der Soul Asylum Klassiker «Runaway Train». «So tired that I couldn’t even sleep» war die letzte Textzeile, die ich bewusst mitbekam.

Es war noch früh, als ich beschloss, erneut die Ruhestätte des Verstorbenen aufzusuchen. Mein Nacken schmerzte. Ich hätte eine Dusche und frische Klamotten gebrauchen können. Stattdessen ging ich los, ungewaschen, in Mantel und Schuhen von gestern, ohne Kaffee, mit steifem Genick. Auf dem Areal der Toten präsentierten sich die Grabsteine geisterhaft im kühlen Bodennebel. «Was mache ich hier eigentlich?» Niemand gab mir eine Antwort. Kein Wunder. Ich stand allein an Malotzkes Grab. Ein frustrierender Anblick: Drei Kränze, ein Strauß Blumen, das war’s.

Der Nebel löste sich allmählich auf. Erste Sonnenstrahlen kämpften sich durch den bewölkten Himmel, die Vögel begannen zu singen. Ein Hauch von süßem Parfüm umgab mich. «Warum haben Sie nicht angerufen?» Ich erschrak. «Kirche leugnet die Wahrheit. Das ist schon seit den Kreuzzügen so.»

«Was?»

«Gehen wir?»

«Wohin?»

«Zu Ihnen.»

«Was wollen Sie von mir?!»

«Ich meine die Wohnung meines Onkels. Sie wohnen Sie doch im gleichen Haus, oder nicht?» Mit einem Male wurde sie unsicher, sah zu Boden, wandte sich ab, entfernte sich beinahe lautlos. Ich folgte ihr.

«Woher wissen Sie, dass er mein Nachbar war?»

«Ich habe es einfach gehofft. Die anderen Trauergäste, na ja, gierige Verwandte. Freunde hatte mein Onkel nicht.» Mittlerweile standen wir in Willi Malotzkes Wohnung. Sie glich einem Museum. Trotz unerträglich trockener Luft roch es muffig. Der Geruch passte zu Malotzkes verschmierter Brille. Er war eben ein widerlicher Kerl.

«Möchten Sie einen Kaffee?» Ein hervorragender Vorschlag.

«Und Sie? Sind Sie genauso gierig?»

«Ich bin für Gerechtigkeit, das ist alles.» Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Noch bevor ich weiter nachhaken konnte, kramte sie einen Briefumschlag hervor, indem sich ein vergilbtes Stück Papier befand. «Happy Weekend» war dort zu lesen, gleich darunter der winzige Teil einer alten Anzeige: «… nackt im Beichtstuhl. Sollten uns wieder …, W.M.» Ohne Kommentar gab sie mir einen Stofflappen, der sich als gerippter Kinderslip mit Eingriff herausstellte. Er muss aus den 1970er Jahren gewesen sein.

Malotzkes Nichte sah mich erwartungsvoll an. «Außerdem gibt es noch einen Zahn.» «Na und?» Vorwurfsvoll fragte sie, ob ich auf der Beerdigung nicht zugehört hätte. Mir wurde das zu viel. Fragen über Fragen, keine Antworten. Wäre ich besser zuhause geblieben. Ich hatte ihn ja sowieso nicht leiden können. Hastig trank ich meinen Kaffee aus, verließ Malotzkes Nichte wortlos, begab mich in meine Wohnung, duschte endlich.

Im Fernsehen lief eine Diskussionssendung zum Zölibat. Es nervte. Schließlich weiß jeder, worauf er sich einlässt, wenn er in den Dienst der katholischen Kirche tritt. Erwachsene Leute treffen Entscheidungen. Der eine verpflichtet sich im religiösen Bereich mit allem, was dazu gehört, der andere nicht. Das ist im Endeffekt völlig normal. Es hat über 2000 Jahre funktioniert. Daran glaubte ich, zumindest für die nächsten fünf Sekunden.

Die Grabrede für Willi Malotzke kam mir in den Sinn: «Unser Mitbürger, …, der sich immer engagiert hat, auch in Belangen, die vielleicht eben nicht immer, …» Seine Nichte hatte mir vorgeworfen, nicht zugehört zu haben. Hektisch suchte ich nach dem Zettel mit der Telefonnummer.

«Ja?»

«Ich bin’s.»

«Lass’ mich in Ruhe, Du Spinner.»

«Halt! Nicht wegdrücken! Ich bin’s. Der Nachbar. Der, von ihrem Onkel.»

«Oh! Sie haben es sich also überlegt?»

«Können Sie in einer halben Stunde bei mir sein?»

Kurze Zeit später saßen wir in meinem Wohnzimmer. «Ich habe nachgedacht, über die Grabrede, meine ich. Deshalb wollte ich mit Ihnen reden. Wer war Ihr Onkel? Wofür hat er sich engagiert?» «Er war ein streitsüchtiger Kontrollfreak. Schließlich akzeptierte aus der Familie niemand mehr seine selbstsüchtige Art. Er wurde nicht einmal mehr zu Weihnachten eingeladen. Aber er war kein schlechter Mensch, jedenfalls nicht so einer.»

«Was meinen Sie mit jedenfalls nicht so einer?»

«Mein Onkel hat sich sein eigenes Grab geschaufelt. Daran gibt es keinen Zweifel.»

«Leider kann ich Ihnen immer weniger folgen.»

Sie fragte nach einer Flasche Bier, sie nahm einen tiefen Schluck, sie starrte in die Flasche, sie erzählte. «Einem Jungen hat er einen wackeligen Zahn herausgerissen. Er hat ihm damit gedroht, andere Zähne, die nicht wackeln, auszuschlagen, wenn er seiner Mutter etwas sagt. Alles, was er den Kleinen angetan hat, hat er im Namen des Herrn gemacht. Er hat das Vertrauen der Kinder missbraucht. Traurigerweise nicht nur das. Die Unterhose hatte ich Ihnen ja schon gezeigt.»

«Entschuldigen Sie, wenn ich mich wiederhole: Ich konnte Ihren Onkel nicht leiden. Im Übrigen war ich offenbar nicht der Einzige, der ihn unsympathisch fand.»

«Begreifen Sie es echt nicht?» Malotzkes Nichte verwirrte mich. Ihr Bier war leer. Ich stellte ihr noch eins hin. «Es geht um den Priester. Und es liegt schon lange zurück. Mein Onkel hätte nicht in der Vergangenheit wühlen sollen.» Allmählich dämmerte es mir. Ihr Wort in Gottes Ohr. Nichtsdestotrotz weigerte ich mich, Licht ins Dunkle zu lassen. Noch, denn es muss wenigstens ein paar Dinge auf dieser Welt geben, die der Gesellschaft heilig sind. Sie überzeugte mich mit zwei kurzen Sätzen vom Gegenteil: «Ich weiß, dass ihn der Priester umgebracht hat. Mein Onkel hat ihn erpresst.» Sie gab mir jede Menge Briefumschläge. «Lesen Sie!» Ich kam ihrer Aufforderung zögerlich nach und war fassungslos.

«Der Priester hat also kleine Jungs, na ja, sexuell …? Nein! Ja?»

«Die Grabrede. Was hat der Priester gesagt? Wissen Sie es noch? … der sich immer engagiert hat, auch in Belangen, die vielleicht eben nicht immer zur Einmischung durch Dritte gedacht sind. Aber er ließ ja nie locker.»

«O.k. Hab’s nun kapiert. Ihr Onkel hatte hemmungslos sein Wissen eingesetzt, sich eigenmächtig als Richter aufgespielt. Doch wen trifft die größere Schuld? Denjenigen, der sündigt oder denjenigen, der Vorteile aus den Vergehen Anderer zieht?» Sie gab kein Sterbenswörtchen mehr von sich.

«Sie müssen doch eine Meinung haben!» Null Reaktion.

«Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?» Keine Antwort.

«Was genau erwarten Sie von mir?» Sie sah mich an.

«Helfen Sie mir, bitte!»

«Ich kann und will Ihnen nicht helfen. Gehen Sie zur Polizei. Zeigen Sie ihr, was Sie mir gezeigt haben.»

«Danke für’s Bier.» Sie ging. Ich schaltete das Radio ein. Der «Runaway Train» war ein Dauerbrenner auf diesem Sender:

So many secrets I couldn’t keep

Promised myself I wouldn’t weep

One more promise I couldn’t keep

Der Priester war unendlich müde. Er wollte schlafen, ohne Gewissensbisse, ohne Alpträume, ohne Enthüllungen. Die Portion rohe Brechbohnen, die der Geistliche mit einem Glas Wein zu sich nahm, sollte ausreichen, endlich Frieden zu finden. Für immer.

Hallo Suse,

deine Geschichte hab ich erst heute mehr als ein Jahr nach deinem letzten Posting gefunden. Ich will auf Stil, Plot, Intention nicht eingehen.
Nur ein juristische Anmerkung. In deiner zweiten Fassung gehst du sehr deutlich auf den einstigen Limburger Bischoff Tebartz van Elst ein. Seine Verschwendungssucht ist das eine und öffentlich bekannt.
Darüber, ob er auch Kinder missbraucht haben soll, ist meines Wissens nichts bekannt und gehörte wohl auch nicht zu den Vorwürfen, die ihm seinerzeit gemacht wurden.
Deshalb wäre ich sehr vorsichtig, ihn auch in einer Erzählung erkennbar damit in Verbindung zu bringen. Es könnte juristische Folgen haben, und wenn du keine Beweise dafür hast, auch recht teuer werden.

Es gibt in der Literatur eine entsprechende Geschichte. Dramatiker Rolf Hochhuth bezeichnete 1978 in seinem Roman “Eine Liebe in Deutschland” den damaligen Baden-Württembergischen CDU-Ministerpräsident Hans Filbinger als “furchtbaren Juristen”, der während der Nazizeit sogar noch in britischer Gefangenschaft nach Hitlers Tod einen deutschen Matrosen mit Nazi-Gesetzen verfolgt" habe.
Es folgte seinerzeit ein Prozess, bei dem aber zutage trat, dass Filbinger als Nazi-Marinerichter mehrere Todesurteile gegen Soldaten antragt oder sogar ausgesprochen, sie aber “vergessen” hatte. Schließlich musste er als Politiker zurücktreten, behauptete aber bis zu seinem Tod, er sei unschuldig bzw. diese Urteile seien rechtmäßig.
Hier ging die Geschichte zugunsten des Autors aus. Aber er konnte auch die Beweise vorlegen.

Hi, danke für den Hinweis. Ärger möchte ich natürlich nicht und wollte einen solchen auch nie provozieren. Zukünftig werde ich noch vorsichtiger mit solchen Namen umgehen, auch, wenn ich diesen nicht explizit erwähnt habe.
Grüße
Suse

Doch hast du. Und nur deshalb bin ich darauf gekommen.
In deiner zweiten (überarbeiteten) Geschichte nennst du in der vierten Zeile den Namen Tebartz und eine Zeile später heißt es, die Keramik sei mit T.v.E. gekennzeichnet gewesen.