Erzähler. Allwissend oder nicht. Oder beides?

Hallo Gemeinde,

nach meinem Exkurs in die Welt des Ich-Erzählers, wage ich mich nun an eine andere Perspektive.

  1. Zieht man die bekannte Literatur zurate, bewerten viele den Erzähler / Beobachtenden als ein omnipotentes Über-Ich, welches im Zweifel in jeden Kopf schauen kann und auch durch Wände. Ihr versteht, was ich meine.

Wie seht ihr das?

  1. Sollte ein Erzähler, der eher Beobachter ist auch bewerten und Dinge einfach etwas flacher beschreiben dürfen? Mal ganz profanes Beispiel:

Er saß auf dem Fenstersims und sah zerknirscht aus. Zu oft hatte man ihm gesagt, dass er nicht schreiben kann.
oder wäre es etwas blumiger besser?
Er saß auf dem Fenstersims und blickte ziellos umher. Seine Stirn lag in Falten. Schon wieder hatte man ihm an den Kopf geworfen, er wäre ein mieser Autor.

Ich hoffe es wird klar, worauf ich hinaus möchte.

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Hallo, Flip,
zum auktorialen Erzähler gibt es hier schon einige Beiträge. Darin wurde auch geäußert, dass der allwissende Erzähler, der Dir hier vorschwebt, eigentlich als etwas veraltet gilt. (Außerdem ist diese Art der Perspektive nicht sehr leicht zu meistern …)
https://papyrus.de/forum/threads/der-auktorialer-erzähler.8092/

Das gilt für den allwissenden Erzähler, der heute aber eher seltener verwendet wird.
Es gibt auch den personalen Er-/Sie-Erzähler. Er steht im Grunde zwischen dem Ich-Erzähler (der sich gewissermaßen im Kopf des Ich-Protagonisten befindet und all dessen Gefühle und Gedanken äußern kann) und dem auktorialen oder allwissenden Erzähler.
Der personale Erzähler sitzt quasi huckepack auf dem Protagonisten und bekommt dadurch gute Einblicke in dessen Lebenswelt und die Perspektive, aus der dieser die Geschichte erlebt, er kann aber nicht so tief in dessen Gefühls- und Gedankenwelt eindringen wie ein Ich-Erzähler.

Zu den Beispielen muss ich sagen, dass sie einen auktorialen Erzähler nicht eindeutig charakterisieren. Es könnte ebenso gut eine personale Perspektive sein, wobei die erste Variante eher “tell” (zerknirscht) und weniger “show” enthält. Aber das ändert noch nicht die Perspektive. Ein auktorialer Erzähler würde (nicht ständig, aber von Zeit zu Zeit) das Geschehen so kommentieren, dass dieser Kommentar außerhalb der Geschichte steht. (vgl. in dem oben angegebenen Link mein Beispiel von Terry Pratchett, in dem der Erzähler kommentiert, dass Hexen schnell trocknen. Das ist eine Information, die die Hexe selbst in dieser Form und an dieser Stelle nicht geben würde.

Übertragen auf Dein Beispiel könnte man den allwissenden Erzähler dadurch kenntlich machen, dass man eine Information einschiebt, die der Protagonist hier nicht wissen kann, z.B. "Zu oft hatte man ihm gesagt, dass er nicht schreiben kann (richtiger: konnte). Natürlich konnte zu diesem Zeitpunkt niemand - er am allerwenigsten - ahnen, dass er ein Jahr später einen Bestseller veröffentlichen würde.
Diese letzte Einmischung des Erzählers über seinen zukünftigen Erfolg kann der Protagonist zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, weshalb deutlich wird, dass es sich um einen auktorialen/ allwissenden Erzähler handeln muss.
So, wie Du Deine Sätze formuliert hast, könnten sie sowohl als auktoriale als auch als personale Perspektive durchgehen. Das kommt häufig vor. Meistens kann man den Unterschied zwischen diesen beiden Perspektiven erst erkennen, wenn man ein gutes Stück des Romans gelesen hat. Aus kurzen Sätzen oder Absätzen ist das oft nicht herauszulesen.
Manchmal werden auch beide Perspektiven gemischt. Die meiste Zeit wird personal erzählt, aber gelegentlich schwenkt man kurz in die auktoriale Perspektive hinüber.

Ich denke, für Dein Projekt wäre eine personale Perspektive durchaus angemessen. Sie gibt eine gewisse Nähe zum Protagonisten und seinen Gedanken und ist dadurch weniger distanziert. Der Leser kann sich leichter mit dem Protagonisten identifizieren.

Vielleicht so?
Er saß auf dem Fenstersims, kaute an seinem Bleistift und starrte stirnrunzelnd auf die leere Seite auf seinen Knien. Die Leute haben recht, dachte er. Du bist ein mieser Autor. Sonst würde dir jetzt etwas Brauchbares einfallen!

Oder lieber allwissend?
Er saß auf dem Fenstersims, kaute an seinem Bleistift und starrte stirnrunzelnd auf die leere Seite auf seinen Knien. Er war so versunken in seine Arbeit, dass er nicht einmal bemerkt hatte, wie die Regentropfen gegen die Scheibe prasselten. Seit zwei Stunden saß er hier und hatte nichts weiter zustande gebracht als einen Haufen zerknülltes Papier auf dem Fußboden. Wahrscheinlich hatten die Leute recht, die ihn für einen miesen Autor hielten, wenn er es auch nicht wahrhaben wollte.

LG
Pamina

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Wenn Du mehr Tell und weniger Show “dürfen” willst, kannst Du es mit einem gealterten Ich-Erzähler versuchen, der vieles, aber nicht alles weiß (was er selbst erlebt hat + was ihm zugetragen wurde) und aus der Perspektive des alten Mannes über seine Jugend schreibt und dabei eben viel erzählt und nicht unbedingt Szenen präsentiert.

Bsp:
Damals saß ich auf dem Fenstersims, kaute an meinem Bleistift und starrte stirnrunzelnd auf die leere Seite auf meinen Knien. Ich war so versunken in meine Arbeit, dass ich nicht einmal bemerkt hatte, wie die Regentropfen gegen die Scheibe prasselten. Ich quälte mich noch weitere zwei Stunden und erging mich in Selbstvorwürfen, bevor ich bemerkte, dass die Wäsche auf der Terrasse nass geworden war. Am Ende des Tages hatte ich keine einzige Zeile geschrieben und nicht einmal meinen Pflichten als Hausmann war ich erfolgreich nachgekommen.

  1. Satz: Show
  2. Satz: Allwissend
  3. Satz: Erzählend

Mein persönlicher Favorit ist die erlebte Rede aus der dritten Person, also er/sie wie in Paminas erstem Beispiel.

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Ich selbst schreibe aus der auktorialen Sichtweise heraus. Mein Erzähler weiß alles, er urteilt, er erklärt, er weiß, wie es ausgegangen ist. Ich halte das weniger für Oldschool, schon weil sich in der Filmbranche - und ich ziehe den Vergleich öfter mal heran - diese Form erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren entwickelt hat und galt da als irgendwie neu. Was nicht ganz richtig ist. Beispiele “Die wunderbare Welt der Amelie”, “Kiss, kiss, bang, bang”. Natürlich wird in dieser Schreibform dem Leser einiges vorweggenommen, das Urteil, die Charakterisierung übernimmt zum größten Teil der Erzähler, nicht der Leser. In leicht spöttisch-überheblichem Ton funktioniert es. Ich schreibe Whydunnit-Krimis (warum hat er/sie/es getan?) und da paßt es ganz gut. Kein ganz leichtes Gepäck, macht aber irren Spaß.
Ich halte die Ich-Perspektive für deutlich schwieriger. Der geneigte Leser bekommt immer nur die eine Sichtweise verpaßt, die des Helden, also vollkommen subjektiv. Das kann beim Lesen schnell einseitig und langweilig werden.

Tja, man muß sich schon irgendwie entscheiden. Unstimmigkeiten im Text, bei denen sich der Leser fragt “Woher weiß der das denn jetzt?” sind sehr unschön.
Letztendlich ist das alles reine Geschmackssache und soll den Leser im Flow halten. Stellt sich die Frage, wie man sich selbst beobachten kann, mit welchem Abstand, oder eben besser andere.

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… oder hochspannend und tief berührend: “Flowers for Algernon” aka “Charly”

Es muss halt zur Story passen und konsequent umgesetzt sein.

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Dieser auktoriale Erzählstil assoziiert bei mir sofort das Bild des Märchenerzählers, der den lauschenden Kindern alles bis ins Detail erklärt.
Da kann ich nichts mit anfangen in einem Roman.
Für mich passt der Mainstream, personale Perspektive im Er/Sie im Präteritum. So zu schreiben fordert natürlich etwas mehr, um Logik und Plausibilität zu bekommen.

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Man kann die Frage “auktorialer Erzähler oder nicht?” nicht unabhängig von der Geschichte beantworten, um die es geht. Die Erzählweise ist genauso ein gestalterisches Element wie alles andere, wie Erzählzeit, sprachliche Ebene usw.

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Ein gutes Beispiel ist Erich Kästners Roman “Als ich ein kleiner Junge war”.