Das ich da stehe und weine.

Hallo in die Runde. Meine Geschichte über der Flucht eines 14-jährigen Jungen aus Syrien ist durch eine politische Ausstellung über Krieg, Flucht und die Folgen entstanden. Eine Ausstellung mit Bildern mehrere Künstler in Zusammenarbeit mit Flüchtlingen, die Ihre Geschichte mit eingebracht haben. Ich habe dazu unter anderem 6 Bilder gemalt, die diese Geschichte des Jungen darstellen.

Stellvertretend für die Erlebnisse und Schicksale, die ein Flüchtling auf der Flucht erlebt, steht eine Puppe, die am Ende in Berlin ankommt.

Die Illustrationen in den Bildern stellen die einzelnen Kapitel dar.

Hier zur Leseprobe und Diskussion das erste Kapitel.

Ankunft der Zugvögel

„Ich weiß nicht, ob wir das dürfen, Sinan, Vater wird uns ausschimpfen."

„Ach, komm schon, Azra, Du wirst sehen, keiner merkt es."

Azra lief hinter ihrem älteren Bruder Sinan her. Azra war ein kleines Mädchen mit langen schwarzen Haaren, die sie zu einem Zopf geflochten hatte. Der ging ihr bis zum Po. Ihre Augen blickten aus tiefschwarzen Pupillen in die Welt. Ihr blaues Kleid, das bis zu den Knöcheln reichte, war weit genug, um schnell zu rennen. Und das musste sie immer, um ihrem Bruder Sinan folgen zu können. Sie war gerade 8 Jahre alt, als der Krieg begann. Sinan war fast zwei Köpfe größer als Azra und mit seinen 13 Jahren schon auf dem besten Weg, ein Mann zu werden. Er hatte meistens ein weißes Hemd über der blauen Hose an. Seine Haare waren genau wie er - nicht zu bändigen. Immer standen sie in allen Richtungen strubbelig vom Kopf ab. Dass sie Geschwister waren, sah man sofort. Sie hatten die gleichen dunklen Augen und die gleichen Gesichtszüge. Nur waren Azras Züge etwas weicher.

Sie lebten in Syrien in der Stadt Qattinah in der Nähe von Homs. Azra und Sinan hatten von den Erwachsenen schon viel darüber gehört, was alles im Land passierte. Sie wussten von den Demonstrationen und der wachsenden Anzahl von Menschen, die dabei verletzt oder sogar getötet wurden. Es war fast Ende April und man spürte den Frühling überall. Morgen, am 21. April, hatte Vater Geburtstag. Sie wollten alle zusammen am See feiern. Sinan und Azra planten deshalb, vorher dorthin zu gehen, um für diesen Anlass einen schönen Platz auszusuchen. Eigentlich sollten sie nur in der Nähe des Hauses bleiben, da es im Moment wieder einige Unruhen gab und auf den Straßen demonstriert wurde. Dabei kam es auch manchmal vor, dass sich Menschen, die verschiedener Meinung waren, mit Steinen bewarfen oder aufeinander losgingen.

Ihr Vater hatte in der letzten Zeit viel mit ihnen geredet. Er kam nun jeden Abend an ihr Bett, um leise und ganz behutsam mit ihnen zu sprechen.

Er sagte zu ihnen: „Habt keine Angst. Es wird bald wieder alles gut. Zum Glück haben sich Politiker aus anderen Ländern gemeldet und diese versuchen, die Streitereien zu schlichten. Deshalb wird es in Kürze wieder normal und friedlich zugehen."

Sie bewohnten ein Haus in der Vorstadt, die mehr einem Dorf glich. Die Häuser standen dicht an eine Felswand gedrängt. Ein kleiner Fluss hatte nicht mehr Platz gelassen, da er das enge Tal teilte und eine Seite regelmäßig überflutete. Der Fluss mündete nicht weit von den letzten Häusern in einen See.

Sinans Vater war Arzt und arbeitete in der Klinik in Homs. Er und seine Familie lebten seit ein paar Jahren in der Vorstadt. Vorher bewohnten sie eine kleine Unterkunft, die zum Krankenhaus gehörte. Aber als die Kinder größer wurden und Sinan in die Schule kam, hatten sie ein Haus am Rande der Stadt bezogen. Sinan und Azra verbrachten ihre Schulferien ab da immer am See. Die Kinder liebten ihr neues Zuhause. Vater hatte bald ein Auto gekauft, um jeden Morgen zur Klinik zu fahren.

Mutter arbeitete auch in der Klinik, in der Verwaltung. Aber seit auch Azra in die Schule ging, war sie zu Hause geblieben, um sich um die Kinder zu kümmern. In der alten Wohnung konnten Sinan und Azra immer schnell zu Mutter laufen, wenn sie etwas brauchten, denn die Verwaltung, in der sie beschäftigt war, und ihre Wohnung befanden sich im selben Gebäude. Mutter hatte im neuen Haus angefangen zu nähen. So konnte sie noch etwas dazuverdienen und es war auch immer noch etwas Stoff übrig, um für Sinan und Azra Kleider anzufertigen.

An diesem 20. April gingen die beiden Kinder wie so oft am Fluss entlang zu ihrem Lieblingsspielplatz. Sie wollten für die Geburtstagsfeier ihres Vaters etwas vorbereiten. Sie liebten eine Stelle am See, von der aus man die Berge sehen konnte, die sich im Wasser spiegelten. Hier hatte Azra von Sinan schwimmen gelernt und auch das Fischen. Das war ihr Geheimnis. Hätte Vater das gewusst, wäre er mit Sinan sehr böse geworden und Azra hätte nicht mehr nach draußen gedurft. Sie hörten in der Ferne ein Brummen. Wie von einem großen LKW oder einem der Autos ohne Auspuff, die manchmal durch die Straßen knatterten.

„Was glaubst Du, was das ist?", fragte Azra ihren Bruder erstaunt.

Sinan drehte sich zu ihr um.

„Ich weiß nicht, ich habe gehört, wie die Männer erzählten, es kämen bald Panzer. Einer sagte: ‚Jetzt überfallen die Zugvögel auch uns.’ …" Sinan machte eine finstere Mine.

Die Geschwister liefen weiter über die kleine Flussbrücke. Weg von den Häusern der Vorstadt und raus aus dem Tal in Richtung des Sees. Es war wie immer: Sinan, der Schnellere, erreichte die Ebene als Erster. Normalerweise wandte er sich dann um und feuerte Azra an, mitzuhalten. Dann sprang er ihr entgegen und sie rannte in seine Arme. Aber diesmal blieb Sinan einfach stehen und blickte zum See, ohne Azra zu beachten. Sie erreichte ihn und erschrak, als sie zum Ufer sah.

„Was ist das?", fragte sie leise und nahm seine Hand. Ihre Puppe Yara hatte sie in der anderen Hand. Eine kleine Stoffpuppe mit leuchtend roten Haaren, von Mutter für sie genäht. Der Körper, die Hände und Füße waren weiß. Mutter hatte ein altes Hemd des Vaters geopfert. Der Kopf war mit Tee dunkel gefärbt und der Körper mit alten Stofffetzen ausgestopft. Sinan hatte mit einem Stift ein Gesicht darauf gemalt. Azra trug sie immer und überall mit sich. Mal hielt Azra sie an einem Arm, mal an einem Bein fest und Yara baumelte dann in ihrer Hand. Meistens aber hatte sie ihre Puppe im Arm, wie es kleine Mädchen machen, die ihre Puppe sehr, sehr lieb haben.

„Sinan, was ist das?" fragte sie noch einmal.

„Das sind Panzer und Soldaten. Das bedeutet nichts Gutes. Vater hat mit Onkel Harkan darüber geredet. Onkel meinte, es ist egal, ob es Soldaten der Regierung sind oder Rebellen - Soldaten seien sie trotzdem. Und Vater sagte, wir würden es ausbaden müssen. Ich weiß nicht genau, was das heißt, aber ich glaube, bestimmt nichts Gutes."

„Was machen denn die Soldaten hier?" fragte Azra.

„Ich weiß es nicht. Komm, wir sehen mal nach. Wir laufen rüber zu den Bäumen, wo wir im letzten Sommer immer gespielt haben. Von da haben wir eine bessere Sicht."

Die Geschwister hasteten durch ein kleines Feld und dann an einigen Büschen vorbei bis zu den Bäumen am Ufer des Sees. Von hier konnten sie die ganze Uferstraße überblicken. Schnell registrieren die beiden, dass sie nicht weit von dem ersten haltenden Panzer entfernt waren und dass eine Kolonne, auch anderer Fahrzeuge, sich langsam auf der Straße um den See bewegte. Nach und nach rollten sie auf die Ebene und stellten sich auf.

„Kannst Du etwas erkennen, Sinan?"

„Ja, ich sehe die syrische Fahne und auch ein Bild von Präsident al-Assad. Das müssen die Soldaten der Regierung sein. Aber sie haben unterschiedliche Uniformen an. Vielleicht sind auch noch Fremde darunter."

Über den Köpfen der Kinder wurde es plötzlich laut. Zwei Düsenflugzeuge, Kampfflieger, zogen sehr tief über die Ebene hinweg. Dann flogen sie über den See, drehten in einer weiten Schleife und kamen noch einmal zurück. Alle Soldaten schauten hoch und einige schickten Jubelrufe zum Himmel. Sinan und Azra nutzten die Gelegenheit zur Umkehr. Sie liefen über das Feld wieder auf den Weg und am Fluss entlang. Als sie die kurze Böschung hinaufsteigen mussten, nahm Sinan seine Schwester bei der Hand und zog sie hoch. Er ließ sie nicht mehr los, als sie die Straße entlanghetzten.

Bevor sie überhaupt die ersten Häuser erreicht hatten, sahen sie, dass überall die Türen offen standen. Frauen, Männer und Kinder rannten auf einen kleinen Platz zu. Alle hatten die Flugzeuge gehört. Als Sinan und Azra näherkamen, waren schon viele an dieser Stelle versammelt. Nach und nach eilten auch die, die auf den Feldern arbeiteten oder in kleinen Werkstätten in den Häusern ihren Lebensunterhalt verdienten, dorthin. Sinan legte mit Azra die letzten Schritte bis zu der Menschenmenge zurück und ließ seine Schwester dann los. Als er erzählte, was sie am See gesehen hatten, wurde er sofort von der Schar umringt. Azra blieb am Rand stehen und hörte ihrem Bruder zu. Er sprach mit Händen und Füßen, antwortete auf Fragen und berichtete ganz genau über die Soldaten, die Panzer, die Fahrzeuge und das, was sich am See zusammenbraute.

„Sinan!!"

Unerwartet stand Sinans Vater am anderen Ende des Platzes. Er lief auf den Jungen zu. Die Dorfbewohner bildeten eine Gasse. Als er Sinan erreichte, sah er ihn erst kurz an und umarmte ihn dann.

„Ist Euch nichts passiert, Junge? Wo ist Azra?"

„Sie ist hier. Nein, alles ist gut. Wir haben die Soldaten gesehen. Es sind so viele, Baba."

Baba, das heißt Vater auf Arabisch und klingt wie Papa. Und der Papa von Sinan nahm seinen Sohn an die Hand und teilte die Menge, die sie umringte. Dann fand er Azra und nahm sie auf den Arm.

„Kommt, Kinder, wir gehen besser heim."

Sie schwiegen auf dem Weg und erst, als sie das Haus erreichten, wollte Azra runter und rannte vor den beiden hinein.

Sie rief laut: „Mama, Mama."

Das sagen auch syrische Kinder zu ihrer Mutter. Azra verschwand durch die Haustür.

Vater griff Sinan bei der Schulter.

„Bleib Du bei den beiden und geht nicht hinaus. Ich muss ins Krankenhaus. Man hat mich gerufen. Es gab Verletzte in der Stadt. Es ist wieder demonstriert worden und dabei hat es scheinbar Kämpfe gegeben. Oder eine Prügelei, da einigen wohl die Argumente ausgingen. Ich müsste schon längst weg sein, aber ich habe zuerst Euch gesucht. Mutter hatte solche Angst, dass Euch etwas passiert sein könnte, nachdem wir die Flugzeuge hörten. Ich komme so bald wie möglich zurück."

„Baba, die Flugzeuge waren laut und so schnell. Ich habe noch nie solch einen Krach gehört. Jetzt ist es leise. Meinst Du, sie sind weg?"

„Sinan, komm bitte rein."

Sinans Mutter stand in der Tür.

„Amman, wo willst Du hin?" fragte sie ihren Mann.

Vater wandte sich zu ihr und sie redeten eine Zeit lang leise miteinander. Dann umarmte er seine Frau, küsste sie auf die Stirn und ging zum Auto. Sinan sah beunruhigt zu, wie Vater davonfuhr. Nie küsste er sie so, wenn er zur Arbeit aufbrach. Irgendetwas war heute anders. Er ging ins Haus. Mutter stand immer noch in der offenen Tür. Sie hatte Tränen in den Augen. Es konnte die Sonne sein oder ein Sandkorn, das der Wind in ihr Auge geweht hatte. Oder es war etwas viel Schlimmeres. Er wusste nicht, wie bald sie das erfahren sollten.

An diesem Abend kam Vater nicht nach Hause. Als es schon sehr spät geworden war, schickte Mutter Sinan zu Bett. Seine Schwester war schon vor Stunden eingeschlafen und Mutter hatte sie ganz vorsichtig hingelegt und zugedeckt.

„Geh bitte auch schlafen, Sinan, ich warte noch etwas. Vater wird wohl noch in der Klinik arbeiten müssen. Das kennst Du ja. Morgen früh ist er wieder da und trinkt müde seinen Tee und schaut der Sonne zu, wie sie langsam aufgeht."

Sinan machte widerwillig Anstalten, ins Bett zu gehen. Aber er war müde und fügte sich. Er schlief schnell ein, aber sein Schlaf war unruhig in dieser Nacht.

Am Morgen erwachte Azra zuerst. Sie ging in Sinans Zimmer, stupste ihn mit dem Zeigefinger auf die Nase und lächelte ihn an. Dann legte sie Yara zu Sinan ins Bett. „Los, Yara, weck Sinan auf. Es ist bestimmt schon spät." Sie kitzelte Sinan am Ohr.

„Komm, wir sehen nach, ob Baba schon da ist."

Damit rannte sie los und war schon auf der Treppe, als Sinan sie rief.

„Azra, willst Du Yara nicht mitnehmen?"

Sinan hielt Yara an einem Bein fest und ließ sie aus dem Bett baumeln. Er tat so, als ob er sie fallen lassen wollte.

„Yara!!"

Azra schrie auf und kam mit ein paar Sätzen zu ihrem Bruder zurück. Sie stürzte sich auf ihre Puppe und riss sie Sinan aus der Hand. Dann schmiegte sie Yara liebevoll an sich, schaute sehr böse zu ihm hin und stapfte erneut zur Treppe. Dort drehte sie sich noch einmal um.

„Ich hasse Dich, Du Tyrann."

Dabei konnte sie ihr Lachen nicht unterdrücken. Tyrann war ein neues Wort, das sie aufgeschnappt hatte und bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit zum Besten gab.

Mit einem lauten: „Baba, bist Du schon da?" rannte sie hinunter in die Küche. Sinan wollte sich am liebsten noch mal im Bett herumdrehen, aber auch er war neugierig, ob Vater zurück war und etwas zu erzählen hatte. Er ging ebenfalls nach unten.

In der Küche saß Azra am Tisch und futterte ein Khubz, ein dünnes Fladenbrot, das sie immer wieder in Laban und Hummus tunkte. Laban ist eine Art Joghurt, den man mit etwas Salz bestreut, über Nacht in einem Sieb abtropfen lässt und dann mit Kräutern, besonders mit Kreuzkümmel würzt. Hummus ist eine Creme aus Kichererbsen und Sesam. Zwischendurch verputzte sie ein, zwei Oliven.

Auf dem Tisch stand neben Azras Glas ein halbvolles mit Tee.

„Ist Vater da?" Sinan schaute Azra fragend an.

„Nein, ich glaube nicht. Das Glas ist von Mama. Sie ist zu den Nachbarn gegangen. Sie sagte, wir sollen uns fertig machen."

Sie klang enttäuscht. Sinan schnappte sich ein Fladenbrot, bestrich es mit Hummus und rannte nach draußen.

„Warte, ich will mit. Wo willst Du hin?"

„Komm, wir laufen zu den Schafställen. Dann sehen wir, wenn Vater kommt."

Als Schafställe bezeichneten die Leute ein paar alte Unterstände auf einer Anhöhe, in denen zwei Bauern im Winter eine kleine Schafherde unterbrachten und einige ausgediente Geräte lagerten. Die Schafe waren jetzt im Frühling auf den Weiden ringsum. Azra liebte diese Zeit. Sie besuchte oft die Herden, um die gerade geboren Lämmer zu streicheln. Die waren so süß und weich. Von den Ställen aus hatte man einen weiten Blick über eine Ebene bis zur Stadt. Man konnte fast die gesamte Straße sehen, die bis zur Vorstadt verlief. Wenn Vater also auf dem Weg war, konnten sie sein Auto schon von Weitem erspähen und waren zu Hause, bevor er ankam. Sie liefen los.

„Warte, ich gebe Mutter noch Bescheid."

Azra rannte in den Flur zu einem Brett, das an der Wand hing. Daran waren einige Haken angebracht und an den Seiten rechts und links daneben hingen Karten an Nägeln. Die Karten an der rechten Seite zeigten ein Mädchen, einen Jungen, unterschiedliche Tiere, einen See, Häuser und verschiedene Gegenstände - die an der linken Seite eine Frau, einen Mann, ein Krankenhaus und weitere Dinge. Das war das Informationssystem der Familie. Es hatte sich aus einem Spiel entwickelt, als die Familie hierhergezogen war. Sinan lernte gerade schreiben und Vater hatte die Karten gemalt, um damit kleine Geschichten zusammenzustellen, an denen Sinan sich üben sollte. Auch Azra lernte gerade auf diese Weise, mit den Worten umzugehen. Da nicht immer alle gleichzeitig zusammen waren, nutzten die Familienmitglieder dieses System, um sich mit den Karten Nachrichten zu hinterlassen. Musste Vater zur Arbeit, so hängte er vorher eine Karte mit einem Mann an einen Haken und ein Krankenhausbild darunter. Die Kinder wussten, ohne zu lesen, was gemeint war. So handhabten es auch Mutter und die Kinder. Wenn Sinan oder Azra zum Spielen gingen und Mutter nicht im Haus war, hängten sie ihre jeweilige Karte an den Haken und ein Bild, aus dem man erkannte, wo sie sich aufhielten. Am See oder bei Freunden oder eben jetzt an den Ställen. Azra hängte ein Mädchen und einen Jungen auf und darunter ein Lamm. Damit wusste Mutter, wenn sie heimkam, wo die Kinder waren.

Zehn Minuten später kamen die Geschwister bei den Ställen an. Die Sonne schien schon sehr warm und Sinan setzte sich an einen Baum in den Schatten. Hier hatte er den idealen Überblick und außerdem war die Stelle sehr gemütlich. Azra nahm sich keine Zeit zum Ausruhen. Sie sah einen Teil der Herde ganz in der Nähe weiden und schon sprang sie auf zwei kleine Lämmer zu. Es ist ein ungeschriebenes Naturgesetz, dass junge Menschen und junge Tiere sich anziehen. Nicht nur Azra rannte neugierig auf die Lämmer zu, auch die Lämmer waren gleich an dem kleinen Menschen Azra interessiert. Wenig später saß Azra im Gras und spielte lachend mit den Vierbeinern.

Sinan schaute auf die Ebene, aber nicht ein Auto war zu sehen. Dann beobachtete er die Straße bis zur Stadt. Er stutzte. Konnte das sein? Er meinte, an zwei Stellen zwischen den Häusern eine Rauchsäule zu erkennen. Rauch über der Stadt war nichts Ungewöhnliches. Es gab etliche Kamine und viele feuerten mit Öl oder in manchen Küchen mit Holz. Aber dieser Rauch sah anders aus. Er war erheblich dichter und für ein normales Feuer war er zu schwarz. Sinan suchte Azra mit seinen Augen. Sie lag im Gras und die beiden Lämmchen schubsten sie mit den Köpfen an und sprangen dann immer mit einem Satz davon, um im selben Augenblick wieder zurückzukommen. Er hörte Azra kichern und quieken. Sinan schaute in den Himmel. Die Wolken zogen langsam über ihn hinweg und bald hatte er vergessen, warum die beiden eigentlich hierhergekommen waren. Stattdessen beobachtete er, wie aus einer Wolke allmählich ein Drache wurde, der über den Himmel flog. Dann tauchte ein ovales Raumschiff auf und als nächstes galoppierte ein Pferd am Horizont entlang. Sinan liebte es, den Wolken zuzusehen und sich die verrücktesten Formen und Gestalten vorzustellen, die sich gerade darin bildeten.

Jetzt entdeckte Sinan doch ein Fahrzeug, das aus der Stadt kam. Es war nicht Vaters Auto, das erkannte er direkt, sondern ein Lieferwagen. Den beobachtete Sinan weiter bis zu der Stelle, wo dieser hinter einer Schneise der Straße verschwand.

„Azra, komm, wir gehen!"

Er rief seine Schwester und rannte dann an den Ställen vorbei über die Anhöhe. Hier gab es eine kleine Plattform, von der man die Vorstadt gut überblicken konnte - ein idealer Beobachtungspunkt. Der Wagen fuhr an den ersten Häusern vorbei und die Kinder hörten, wie der Fahrer immer wieder hupte. Als er auf dem kleinen Platz hielt, kamen genau wie am Vortag viele Menschen angelaufen, die sich um das Fahrzeug drängten. Es musste wichtige Neuigkeiten geben. In dem Moment, als Sinan überlegte, ihren Plan zu ändern und lieber den Platz anzusteuern, stand Azra neben ihm.

„Warum müssen wir schon wieder weg? Ich habe so schön mit den Lämmern gespielt und ihnen gerade ein Kunststück beigebracht."

Azra hatte einen stolzen Gesichtsausdruck und erwartete, dass sie Sinan eine kleine Vorstellung geben konnte. Aber er reagierte nicht und drehte sich einfach zum Weg um.

„Komm!"

Mehr sagte er nicht. Azra war enttäuscht und wollte sich nicht so einfach geschlagen geben. Immer musste Sinan entscheiden, wann Schluss war. So etwas Ungerechtes.

„Azra, komm!"

Sinans Ton war bestimmend und klang eher besorgt als böse. Er schaute sie noch einmal an und ging dann den Weg von den Ställen hinunter. Azra trottete sauer und bewusst langsam hinterher. Sie fand es gemein. Erst war Baba nicht gekommen und jetzt durfte sie nicht weiterspielen. Ein blöder Tag.

Sinan ging schneller als Azra, die weiter verärgert war. Immer wieder drehte er sich um und ermahnte sie, Schritt zu halten. So erreichten sie endlich den kleinen Platz. Auch Mutter stand mittlerweile mit ein paar Frauen aus der Nachbarschaft dort. Azra lief zu ihr und Sinan ging zu dem Wagen. Immer noch wurde das Fahrzeug von Menschen umringt, sie sich aufgeregt unterhielten. Sinan stellte sich dazu. Gerade hatte der Fahrer das Wort ergriffen. Sinan erkannte ihn als den Gemüsehändler aus ihrer Straße. Er verkaufte Azra und ihm manchmal zu einem guten Preis die Reststücke von Wassermelonen, wenn es heiß war. Die konnten sich die Kinder von ihrem Taschengeld leisten. Sie schmeckten selbstgekauft einfach noch besser. Vor allem, wenn die beiden sie dann an ihrer geheimen Stelle am See aßen.

„Ich glaube nicht, dass die Soldaten Gewalt ausgeübt haben. Aber ich bin trotzdem gefahren, nachdem sie die Seitenstraßen absperrten. Ich wollte nach Hause und daher bin ich weg, bevor alles dicht war. Dabei habe ich die zwei Feuer gesehen."

„Welche Feuer?"

Sinan hatte sich vorgedrängt und stand nun fast vor dem Mann.

„Keine Sorge, junger Mann, es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. Einige Demonstranten haben in zwei Seitenstraßen des großen Platzes, auf dem der Uhrenturm steht, Autoreifen angezündet. Aber sonst ist nichts passiert. Und das Feuer war auch nicht gravierend."

„Daher der Rauch", dachte sich Sinan.

„Haben Sie meinen Vater gesehen, er hat Dienst in der Klinik?"

„Ich weiß nicht, Junge. Als ich mich gerade auf den Weg gemacht hatte, trafen zwei Krankenwagen ein. Es kam zu einer Prügelei, die zwar nicht lange dauerte, bei der jedoch einige Menschen verletzt wurden. Deshalb leisteten die Sanitäter Erste Hilfe. Ich kann mich nicht erinnern, ob Dein Vater dabei war."

„Sinan, Deinem Vater wird schon nichts passiert sein. Er ist Arzt, er hilft den Menschen. Und wenn es Verletzte gegeben hat, ist er mit ihnen schon längst wieder im Krankenhaus."

Ein Nachbar hatte seinen Arm um Sinan gelegt und beruhigte ihn. Aber Sinan löste sich von ihm und lief hinüber zu seiner Mutter.

„Weißt Du denn nicht mehr?" Er schaute seine Mutter an.

„Nein, Sinan, ich habe schon so oft versucht, in der Klinik anzurufen. Aber im Moment kommt man nicht durch. Es ist, als ob alle Telefonverbindungen unterbrochen sind."

„Da stecken bestimmt die von der Regierung dahinter. Die schalten ja auch den Strom ab und zensieren das Fernsehen. Da läuft den ganzen Tag nur altes Zeug. Keine Nachrichten, oder wenn doch, ist nicht von Aufständen oder Demonstrationen die Rede."

Eine der Frauen, die bei Mutter standen, regte sich auf und bald diskutierte wieder jeder mit jedem darüber, was denn nun los sei und was man nur machen sollte.

„Ich gehe in die Stadt zu Vater."

Sinan stand vor seiner Mutter und war fest entschlossen aufzubrechen.

„Nein, mein Sohn, Du bleibst hier. Was hat Vater Dir gesagt?"

„Man muss doch irgendetwas tun. Ich kann doch nicht einfach nur hier herumstehen und nichts machen."

„Ich glaube nicht, Sinan, dass Dein Vater Hilfe braucht. Und außerdem hat er Dir etwas aufgetragen, oder? Und dass Du nichts tun kannst, glaube ich nicht. Du sollst doch bei Deinem Onkel etwas für Vater abholen. Hast Du das vergessen? Er wird bestimmt enttäuscht sein, wenn er heimkommt und die Bücher nicht da sind."

Mutter hatte über den Mann ihrer Schwester als Geburtstagsgeschenk medizinische Bücher aus dem Ausland besorgen lassen. Die sollte Sinan schon am Vortag herbringen, aber da waren ja die Panzer gekommen. Jetzt wurde es aber Zeit. Vater konnte jeden Moment zurück sein und noch nichts war vorbereitet oder eingepackt. Sinan schaute etwas bedröppelt drein und drehte sich um. Er wusste, es war besser, jetzt den Auftrag auszuführen und sich nicht mit Mutter anzulegen. Er ging.

„Was hat Vater Dir denn aufgetragen? Ist es eine Überraschung für heute?"

Azra stand neben ihm und zog Sinan an der Hand. Sie blickte ihn sehr neugierig an.

„Nichts. Lass mich in Ruhe."

Sinan war sauer. Sauer auf seine Mutter, auf Vater, auf die Stadt und eigentlich auf sich selbst. Ja, er hatte die Bücher nicht abgeholt und wenn jetzt Vaters Auto um die Ecke fahren würde, hätte er ein Problem. Und er ärgerte sich darüber, dass er nicht wusste, was in der Stadt passierte, und nicht selber nachsehen durfte. Wie gerne wäre er jetzt auch auf dem großen Platz, auf dem demonstriert wurde. Er hatte schon so viel gehört über all die Ereignisse, die sie in den Nachrichten den Arabischen Frühling nannten. Da hatte die Bevölkerung in vielen arabischen Ländern wie Tunesien oder Ägypten angefangen, friedlich zu demonstrieren. Es ging um Freiheit und um mehr Demokratie und Gerechtigkeit. Und diese Gedanken und Wünsche der Menschen erfassten immer mehr Staaten, so auch Syrien. Und plötzlich redete man auch hier über diese Dinge wie Ungerechtigkeit. Sinan träumte davon, mit dabei zu sein und etwas zu ändern. Er hatte zwar bis jetzt nichts unter den bestehenden Verhältnissen vermisst. Er hatte nie unter irgendeinem Gesetz leiden oder etwas wie Ungerechtigkeit oder Unterdrückung durch die Regierung erleben müssen. Und doch hing er diesem Traum nach, mit den Menschen auf die Straße zu gehen, um sich für ein besseres Leben einzusetzen. Es war ein Gefühl von Abenteuer, denn die Geschichten, die Sinan hörte, waren spannender als alle Geschichten, die Baba ihm erzählt hatte, als er noch klein war. Das waren ja auch nur Märchen und erfundene Handlungen, aber das hier war echt. Und er könnte mittendrin sein.

In seinen Gedanken war er ein Held. Einer der Eroberer der alten Zeiten oder ein Seeräuber, der die Meere unsicher macht. Und jemand, der die Armen befreit, den Reichen das Geld abnimmt und es den Bedürftigen gibt. Jemand, der dann in einem Palast wohnt und edle Pferde reitet und natürlich einen Sportwagen fährt. Stattdessen ging er nun mit gesenktem Kopf zu seinem Onkel, der nicht weit weg wohnte, um Bücher abzuholen. Hatte man jemals gehört, dass ein Volksheld, ein Befreier Botendienste machte? Naja, es nutzte ja nichts. Er beeilte sich nun sehr, da er Vater nicht mit dem Geburtstagsgeschenk in die Arme laufen wollte. Er schaffte es auch bis zum Mittag - doch Vater war immer noch nicht da.

„Was machen wir, wenn Baba nicht bald kommt? Gehen wir dann trotzdem zum See, Mama?"

„Azra, es ist der Geburtstag Deines Vaters und ohne ihn gehen wir nirgendwo hin. Stell Dir vor, Kleines, er trifft zu Hause ein und wir sind nicht da. Soll er dann am ganzen See entlanglaufen, um uns zu suchen? Das wäre sehr schade. Wir bleiben und warten."

„Aber wenn er nicht kommt, was dann?", fragte Sinan und schaute Mutter an.

„Er wird schon erscheinen. Und wenn nicht, so wird er seine Gründe haben. Wir können nicht telefonieren und das ist nicht schön. Vater wird auch versuchen, uns zu erreichen und sich große Sorgen machen. Andererseits, wenn etwas passiert wäre, wüssten wir es - irgendjemand gäbe uns Bescheid. Und Vater weiß genauso, dass irgendein Nachbar ihn informieren würde, wenn uns etwas geschehen wäre. Kommt jetzt, wir wollen alles zusammenpacken, bevor Vater eintrifft. Dann können wir direkt zum See aufbrechen."

„Kann ich noch mal zu den Ställen gehen? Dann kann ich sehen, wann er kommt."

„Nein, Sinan, Du bleibst hier. Ich will nicht, dass, wenn der Eine endlich auftaucht, der Nächste verschwunden ist. Und jetzt ist Schluss, wir packen und warten."

Und das taten sie nun. Das Essen, die Decken und natürlich die Geschenke verstauten sie in zwei Taschen, die einem Rucksack ähnelten. Und in einem bequemen Tragebeutel, in dem noch genügend Platz war, falls ihnen noch etwas zum Mitnehmen einfiel, waren Wasser und Tee. So warteten und warteten sie. Es war beunruhigend, dass Vater nicht heimkam. Aber das Schlimmste für Azra und Sinan war die unendliche Langeweile. Sie hatten bereits versucht, sich mit den verschiedensten Dingen die Zeit zu verkürzen. Mit Rätseln und Farbenraten und gegenseitigem Grimassenschneiden. Aber die Ablenkung hielt nicht lange an und so saßen sie wieder mit Mutter vor den Taschen. Sie stellten die Arme mit den Ellenbogen auf die Knie und stützen den Kopf mit den Händen. Der wurde immer schwerer. Wie ein Stein. Die Langeweile drückte ihre Köpfe immer tiefer. Und Mutter versuchte wieder und wieder anzurufen - aber die Leitung blieb tot.

Plötzlich schob Mutter ihren Stuhl beiseite. Sie stand auf und ging zur Tür.

„Ich versuche es noch einmal bei den Nachbarn. Das kann doch alles nicht wahr sein. An seinem Geburtstag kommt er nicht nach Hause. Na, dem werde ich was erzählen. Ich habe gekocht und alles vorbereitet. Was denkt sich Amman nur?"

Sie sah sauer aus. Aber das spielte sie nur für Sinan und Azra. Die Kinder sollten glauben, dass sie sich über die Unzuverlässigkeit ihres Vaters ärgerte. Das schien ihr vernünftiger, als dass die beiden sich Sorgen machten, es könnte etwas Schlimmes passiert sein, und Angst bekamen. Sie selbst war schon seit dem Morgen stark beunruhigt. Die lange Funkstille machte sie wahnsinnig. Das war ganz und gar nicht die Art ihres Mannes. Wenn es nicht gerade unmöglich gewesen wäre, er hätte einen Weg gefunden, ihnen Bescheid zu geben. Selbst ein Taxi aus der Stadt bis hierher kostete nicht sehr viel. Damit hätte er ihnen eine Nachricht zukommen lassen können. Das hatte er zweimal gemacht, als sie in das neue Haus gezogen waren und noch kein Telefon angeschlossen war. Da musste er auch länger im Krankenhaus bleiben und hatte ihnen durch den Taxifahrer einen Zettel überbringen lassen. Und nun … Nichts.

„Sinan, Azra, Ihr könnt spielen gehen. Heute werden wir nicht mehr zum See aufbrechen. Wir könnten ja gerade mal eine Stunde bleiben, bis es anfängt, kalt und dunkel zu werden. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Feier zu verschieben. Erst mal muss Vater wieder hier sein."

Sie wollte gerade das Haus verlassen, da klopfte es. Sinan und Azra sprangen auf und riefen: „Baba, Baba, Baba!!"

Mutter riss die Tür auf, stutze und sah gleichzeitig erleichtert und bestürzt aus. Dann ging sie einen Schritt zurück und sagte: „As-salāmu alaikum. Komm rein."

Die Kinder rannten zum Ausgang. Dort stand Großvater, der Vater von Baba.

„Jipp, Mama, Jipp ist da."

Jipp heißt Großvater.

„Großvater, Großvater, komm rein, ich mache Tee."

Azra lief schon in die Küche.

Großvater umarmte erst Mutter, dann Sinan. Und Sinan drückte Großvater sehr lange und ließ ihn erst los, als dieser zu ihm sagte:

„Sinan, Du erdrückst mich ja."

Großvater schaute zu Mutter. Dann horchte er auf. Im Raum nebenan tat sich etwas.

„Kommt doch erst mal ins Wohnzimmer, dann können wir uns unterhalten. Azra hat bestimmt den Tee fertig und wir wollen nicht unhöflich sein und sie warten lassen."

Großvater war ein sehr ruhiger und zuvorkommender Mann. Nie hatte Sinan ihn laut reden hören und immer dachte er zuerst an andere. Er war seit langem Witwer. Sinan und Azra hatten ihre Großmutter nie kennengelernt. Aber Großvater erzählte immer gerne von ihr. Wie Vater als Kind Großmutter auf die Palme brachte, durch Streiche oder Blödsinn, den Großvater dann bei seiner Schilderung äußerst blumig ausmalte.

Im Wohnzimmer setzten sich alle. An zwei Wänden standen große Sofas, drei bequeme Sessel und in der Mitte ein sehr tiefer Tisch. Auf den Tisch hatte Azra ein rundes, silbernes Tablett mit vier Teegläsern und einer Dose Zucker gestellt. Kleine Löffel lagen neben den Gläsern, und Azra hatte sich in eine Ecke des Sofas am Fenster gekuschelt.

„Na, kommt, ich warte schon auf Euch."

Mutter blinzelte Azra als Zustimmung zu und um ihr zu zeigen, dass sie stolz auf ihre kleine Tochter war. Sie gab eine perfekte Gastgeberin ab, und das mit 8 Jahren.

„Danke meine Prinzessin, ich bin sicher, das ist der beste Tee, den ich jemals getrunken habe."

Großvater nahm sein Glas und setzte sich neben Azra. Sie schmiegte sich gleich an Großvater und umfasste seinen Arm mit ihren Ärmchen. Sinan nahm auf einem Sessel Platz und Mutter auf dem anderen Sofa. Alle schauten sich an und tranken Tee.

„Ist Amman noch nicht zurück? Wisst Ihr etwas?"

Großvater unterbrach die Stille.

„Nein, wir warten seit gestern auf ihn. Im Krankenhaus wird einiges zu tun sein. Wir haben gehört, es gab Verletzte in der Stadt."

„Ja, es ist einiges passiert seit gestern. Soldaten sind nun im Zentrum und die Auseinandersetzungen mit den Demonstranten liefen tatsächlich nicht nur handgreiflich ab. Man ging mit Tränengas und Knüppeln aufeinander los, es wurde mit Steinen geworfen und sogar geschossen. Das Militär hat die Innenstadt abgeriegelt. Auch der Busverkehr ist eingestellt. Ich musste sehr weit zu Fuß laufen, um dann endlich eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Sonst wäre ich viel früher hier gewesen. Ich befürchtete schon, Ihr wärt ohne mich zum See gegangen."

„Wir warten und hören nichts. Die Telefone sind tot und auch sonst kriegen wir hier draußen nicht viel mit. Heute hat unser Gemüsehändler von den Vorfällen auf dem großen Platz berichtet. Aber keiner kann etwas Genaues sagen. Wir dachten, da Du in der Stadt wohnst, weißt Du mehr. Ich mache mir langsam Sorgen."

Mutter war plötzlich nicht mehr so gefasst wie noch vor Eintreffen von Großvater. Da auch er nichts erfahren hatte, wurde sie langsam sehr nervös. Was war da nur los in Homs?

„Großvater, können wir nicht in die Stadt gehen und selber nach Vater sehen? Wir müssen doch etwas tun. Großvater, bitte."

Sinan hatte sich aufgesetzt und fast seinen Tee verschüttet. Er schaute abwechselnd zu Mutter und Großvater.

„Nein, Sinan, Du bleibst hier. Und wir anderen auch. Du hast es gehört, in der Stadt wird geschossen. Du gehst bestimmt nicht dorthin. Wir warten. Ich werde jetzt noch einmal die Nachbarschaft und Onkel Harkan befragen. Irgendeiner muss doch Informationen haben."

Dann drehte sie sich zu Großvater.

„Kannst Du bei Sinan bleiben? Ich nehme Azra mit. Sie kann mir helfen. Ich bringe noch Essen zu den Nachbarn. Wir werden heute nicht mehr feiern."

„Mama, ich will hier nicht nur so herumsitzen. Ich werde Großvater nachher begleiten, wenn er sich auf den Heimweg begibt."

„Nein, Sinan, das wirst Du nicht tun", antwortete Großvater. „Ich werde heute nicht mehr in die Stadt zurückkehren. Es war geplant, dass ich heute hier schlafe. Ich bleibe als Gast und Du bleibst jetzt hier bei mir."

Mutter schaute dankbar zu Großvater. Er hatte erkannt, dass es jetzt wohl das Beste war, zusammenzubleiben. Und jemand musste sich um Sinan kümmern.

„Komm, Azra, wir holen einige Essenssachen und gehen. Bis gleich."

Damit saßen Sinan und Großvater alleine im Wohnzimmer.

„Großvater, was ist eigentlich los? Warum passieren all diese Dinge hier bei uns? Ist das dieser Arabische Frühling?"

„Sinan, was da genau passiert, weiß ich nicht. Ich befürchte, keiner weiß das im Moment. Einige reden seit langem über eine Revolution. Über mehr Freiheit. Über mehr Rechte. Und über ein besseres Leben. Die anderen wollen sich nicht ihre Macht, ihre Position wegnehmen lassen. Wollen nicht, dass die Menschen anfangen, sich selbst zu bestimmen. Ich gebe zu, viele können das gar nicht. Viele brauchen jemanden, der ihnen sagt, wie sie leben sollen. Und die Gläubigen oder die, die meinen, gläubig zu sein, bilden eine weitere Gruppe. Dazu kommt noch die ganze Politik von außen. Da sind die Amerikaner, die schon immer Interesse daran hatten, sich einzumischen. Wegen Öl, Waffengeschäften und Vormachtstellung im Nahen Osten. Da sind die anderen Staaten ringsherum, die über mehr Gebiete herrschen wollen. Oder eben meinen, sie müssen ihre Ideen und Religionen anderen aufdrängen. Da gibt es den uralten Kampf zwischen Schiiten und Sunniten. Da sind die Christen und die Juden, die Kommunisten und die Demokraten. Und alle behaupten, ihre Welt ist die beste."

„Aber Du sagst doch immer, es gibt nur einen Gott. Ist das denn nicht so?"

„Das ist richtig, mein Lieber. Es gibt nur einen Gott, Allah. Aber dennoch haben viele sich Allah so gemacht, wie sie ihn haben wollen. Da sind erst einmal die Menschen, die sagen, sie glauben nicht an Allah. Ihn gibt es nicht. Und dann haben sie doch ihren eigenen Gott erschaffen. Der ist für den einen das Geld, für den anderen der Beruf, die Anerkennung oder dergleichen. Auf jeden Fall ein Gott, der seine Gläubigen immer betrügt. Denn diese Dinge, die ich gerade aufgezählt habe, machen auf Dauer nicht glücklich und helfen am Ende des Lebens nicht wirklich. Dann sind da noch die Menschen, die von Gott nur das wissen wollen, was ihnen in den Kram passt. Er ist nur dann für sie wichtig, wenn sie ihr Leben nicht ändern müssen. Sie picken sich aus dem Glauben das Angenehme heraus."

„Verlangt denn Allah Unangenehmes von uns?"

„Sinan, Allah ist gütig und wird einem Gläubigen nie etwas abverlangen, was er nicht erfüllen kann. Aber er möchte, dass Du den Rest Deines Lebens nicht nur feierst und an Dich denkst, sondern das weitergibst, was Du von ihm bekommst: Liebe und Verständnis. Das machen aber die wenigsten. Eben die, die sich das Beste heraussuchen, nehmen seine Hilfe gerne an und genießen die Freiheit, sehen aber keinen Grund dafür, Bedürftigen zu helfen oder Allah für das Glück, das sie erleben dürfen, zu danken."

Sinan hörte Großvater gerne zu. Er konnte die Dinge so erklären, dass er sie verstand. Und Großvater gab Sinan Raum, sich seine eigenen Gedanken zu machen und seine eigene Meinung zu bilden. Er verurteilte nie jemanden, hatte für alles Verständnis, auch wenn er nicht guthieß, was manche taten. Aber für ihn war jeder Mensch ein Geschöpf Gottes, über das er nicht zu richten hatte. Dieses Urteil überließ er lieber Allah.

„Und Allah lässt nun zu, dass sich alle streiten? Großvater, ich verstehe nicht, warum sich plötzlich so viele Menschen anfeinden. Es müssten doch einige dabei sein, die den Streit schlichten. Und in der Moschee müssten doch sowieso alle friedlich zusammensein. Wie soll das gehen, wenn man sich prügelt und nachher zusammen betet?"

Großvater schaute Sinan an und lächelte. Er konnte es nicht anders ausdrücken. Er war stolz auf seinen Enkel.

„Sinan, Du wirst einmal ein weiser Mann werden. Ich würde Dich gerne noch kennen, wenn Du dermaleinst erwachsen bist. Es erfüllt mich mit Stolz zu erleben, wie Dein Geist wächst und weiter sieht als der vieler anderer, die ich kenne."

Er nahm seinen Tee und leerte das Glas.

„Ich will versuchen, Dir zu erklären, worum es bei all dem geht. Und eines kannst Du mir glauben: Allah hat am wenigsten damit zu tun. Es sind die Menschen. Es sind immer die Menschen mit ihren Wünschen und Interessen. Stell Dir vor, es hat eigentlich noch nie eine Zeit auf dieser Welt gegeben, in der nicht irgendwo ein Krieg tobte. Immer haben sich Menschen erst gestritten und dann bekriegt. Sich gegenseitig umgebracht und meistens erst aufgehört, wenn es nichts mehr gab, wofür man noch kämpfen konnte, oder einfach keiner mehr die Kraft hatte, sein Schwert zu erheben. Sei es nun durch Verletzung, Kälte, Müdigkeit oder Hunger. Aus Vernunft ist das sehr selten passiert. Und immer hat es irgendwo auf der Welt angefangen wie nun hier."

Großvater ging in die Küche, um sich noch ein Glas Tee zu holen. Sinan dachte angestrengt nach über das, was er ihm gesagt hatte. Hatte Großvater recht und gab es immer irgendwo Krieg? Er begann zum ersten Mal, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Jetzt, hier und heute dachte Sinan zum ersten Mal nach über mehr als nur die Dinge, die seine Welt als Kind betrafen. Er reflektierte, was um ihn herum passierte - mit den Menschen, mit dem Land, ja mit der ganzen Welt. Und er erinnerte sich. Im Radio und im Fernsehen hatte es viele Berichte gegeben über das, was sich in vielen arabischen Ländern abspielte. Ihm fielen die Kriege ein, die im Irak und Iran stattfanden. In der Schule hatte er viel über die Schlachten, schon zur Zeit der Chaldäer oder des babylonischen Königs Nebukadnezar, in der Antike gelernt. Und dann all die Geschichten der Kämpfe im alten Orient. Und immer sah man, so lange er denken konnte, Bilder vom Krieg um Israel und Palästina. Sinan erkannte erstmals in seinem Leben, dass Krieg etwas ist, was immer schon da war und immer da sein wird. Er bekam plötzlich Angst. Keine konkrete Angst wegen einer Sache, sondern eine seltsame, tiefe, im Innern sitzende Angst, die einen ersten, dunklen Schatten auf seine kleine Seele warf. Ein Schatten, den er nie mehr los wurde. Sinan hatte sich von einem Moment auf den anderen verändert.

„Ich glaube, wir sollten nicht mehr über diese Themen reden, Sinan. Du siehst sehr beunruhigt aus. Das musst Du nicht."

Großvater kam mit neuem Tee zurück.

„Doch, ich will hören, wie die Dinge zusammenhängen. Ich bin kein Kind mehr, Großvater. Erzähl mir mehr. Was kommt da auf uns zu? Ich sehe doch, dass sich Mutter sehr große Sorgen macht. Und Vater war in der letzten Zeit auch anders als sonst."

„Nicht so schnell, Junge. Ich möchte mich erst einmal hinsetzen. Wir müssen uns nicht beeilen. Politik, weißt Du, ist ein langsames Geschäft. Und die, die ihre Interessen durchsetzen wollen, wissen, dass alles schleppend vorangeht. Aber es ist eben auch so, dass es danach lange erst einmal so weitergeht, wie es dann ist."

„Was meinst Du denn damit? Das verstehe ich nicht."

„Also, ganz langsam, so wie ich es gesagt habe. Ich meine damit, dass man gewisse Dinge in einem Land nicht von heute auf morgen umkrempeln kann. Wenn in einem Staat aus einem Königreich eine Demokratie werden soll, so dauert es Jahre, bis sich alles eingespielt hat. Die Regierung muss neu gebildet werden. Die Überarbeitung der bisherigen Gesetze ist notwendig. Die Verwaltungen des Landes, der Städte und der Dörfer brauchen neue Strukturen. Und auch die Menschen müssen sich ändern. Das dauert seine Zeit."

„Warum die Menschen? Die bleiben doch immer gleich."

„Nein, Sinan, das ist nicht so. Stell dir vor, wir würden in einem Staat leben, in dem das ganze Land einem König gehört. Alle Bewohner wären verpflichtet, die Felder des Herrschers zu bestellen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Jeder einzelne bekäme täglich genaue Anweisungen, was er zu tun hat - wo und was er arbeitet. Und dann käme plötzlich ein Krieg und der König würde besiegt. Die neuen Herren würden allen Staatsbürgern ein Stück Land geben, wodurch sie sich selbst versorgen könnten. Jeder wäre frei und könnte nun machen, was er will."

Sinan rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her.

„Ja, das wäre doch toll. Keiner würde mehr unterdrückt. Entspricht das nicht dem, was die Menschen bei uns nun überall fordern? Bei den Demonstrationen meine ich."

„Ja, Sinan, so in etwa. Aber wir sind noch bei unserem Gedankenspiel. Jetzt stell dir also vor, jeder, dem man sonst immer genauestens gesagt hat, was er machen soll oder darf, ist nun sein eigener Herr. Aber er hat nie gelernt, selbstständig zu arbeiten. Er weiß nicht, wie und wo er die Samen für sein Feld kauft. Wie er Schädlinge bekämpft und woher er das Wasser bekommt. Und er kennt nicht die Gesetze des Handels, denn er will ja nicht nur seine eigenen Produkte verzehren. Aber von wem erhält er zum Beispiel Eier? Da muss sich einer überlegt haben, Hühner zu züchten. Aber wer? Du siehst, es ist nicht so einfach, alte Gewohnheiten plötzlich umzuwerfen. Und wir sind nur beim Essen. Ein Land braucht aber auch Schulen, Straßen, Strom, Geld, Krankenhäuser und vieles mehr. Wer kümmert sich darum? Wer sorgt dafür, dass das Telefon klingelt und ein Krankenwagen oder die Feuerwehr kommt?"

Sinan war verwirrt. Er hatte nicht gedacht, dass es so kompliziert werden würde. Dennoch erkannte er: Großvater hatte schon recht. Das funktionierende Zusammenleben der Menschen in einem Land ist nicht mit der Gemeinschaft einer Familie vergleichbar. In einem so überschaubaren Personenkreis kann viel schneller etwas geändert werden, denn Mutter oder Vater sind ja immer da, um alles zu regeln. Sinan bekam eine leise Ahnung davon, dass es mit so vielen Menschen in einem Staat viel problematischer sein musste. Und er erkannte halbwegs, bei seinen ersten konkreten Überlegungen zur Politik, dass er eigentlich noch gar nichts wusste. Er sackte in sich zusammen.

„Großvater, ich glaube, ich brauche auch eine ganz schön lange Zeit, um das alles zu kapieren."

Großvater schaute Sinan mit leicht gesenktem Kopf an.

„Mach es Dir nicht so schwer, Sinan. Du musst nicht sofort alles verstehen. Nicht einmal langsam. Das tun die, die behaupten, alles zu wissen, auch nicht. Sie meinen nur zu wissen. Sie kennen nur ihre eigene Meinung und haben nur ihre Sicht der Dinge. Glaube mir, wer allzu schnell mit der Lösung aller Probleme oder einem Patentrezept für das Glück der Menschen daherkommt, hat sich nicht die Mühe gemacht, einmal über seinen eigenen Tellerrand zu schauen. Ich behaupte sogar, es hat noch nie jemand zuvor gemacht - zumindest nicht eine Person mit Macht und den Möglichkeiten, etwas im eigenen Land zu ändern. Wie kann man erwarten, dass sich alle glücklich und zufrieden fühlen, nur weil sie so leben, wie es ein Einzelner oder eine Gruppe fordert? Stell Dir vor, ein neuer Regierungschef mag keinen Tee. Und ab dem ersten Tag seiner Amtszeit müssen nun alle Bewohner Kaffee statt Tee trinken. Er geht davon aus, dass alle zufrieden sind, denn er ist es ja auch. Aber er ist ein dummer Mann. Leider hat es in der Geschichte mehr dumme als denkende Menschen gegeben. Jedenfalls bei denen, welche die Länder regierten."

„Und unser Präsident - ist der auch ein dummer Mann?"

Sinan hatte etwas sehr Wichtiges gemacht. Er hatte eine Frage gestellt, anstatt ebenfalls etwas zu behaupten oder einen Politiker zu kritisieren. Die Unterhaltung wurde ernster und ernster. Großvater war es etwas mulmig - Sinans Frage sollte man so zu dieser Zeit in Syrien nicht stellen. Großvater befürchtete, Sinan mit dieser Art von Gedanken und Meinungen in große Gefahr zu bringen. Sinan war noch zu jung, um wissen zu können, mit wem man so etwas bespricht. Er würde womöglich beim nächsten Einkauf öffentlich seine neuen Erkenntnisse zum Besten geben, ohne sich bewusst zu machen, wer alles zuhört. Den Präsidenten dumm zu nennen, wäre für viele ein Verbrechen. Sinan würde man als Kind noch nicht so ernst nehmen, doch könnte jemand Erkundigungen einziehen, woher und von wem er solches Gedankengut hatte. Er musste aufpassen. Aber er wollte Sinan auch nicht einfach ohne Erklärung lassen. Zumal sein Enkel jetzt sowieso nachfragen würde. Und wenn er ihn nicht fragte, dann vielleicht den Falschen?

„Hör zu, mein Junge. Ich habe nicht behauptet, unser Präsident sei dumm. Das ist er bestimmt nicht. Ich meinte damit auch nicht die Dummheit eines Menschen, der nicht einmal die einfachsten Dinge weiß oder in der Lage ist, sie zu verstehen. Der nicht schreiben und lesen kann - ja, der ist dumm. Nach meiner Auffassung ist ein Präsident oder König dumm, der nicht weiter denkt als bis zu sich selbst. So wie mit dem Kaffee. Oder so wie mit der Freiheit oder dem Weg des Glücks. Davon haben alle Menschen zwar oft eine ähnliche Vorstellung, aber eben doch nicht ganz genau die gleiche. Alle streben an, glücklich zu sein. Der eine ist es, wenn er ein Buch lesen kann oder mit Freunden zusammen ist. Ein anderer möchte nur in seinem Garten sein, seinen Pflanzen beim Wachsen zusehen und am Ende des Sommers die Früchte seiner Arbeit ernten. Wer kann bestimmen, welches Glück richtig, besser oder sogar das einzige ist? Und das meine ich: Wenn ein Präsident vorschreibt, dass die Menschen in seinem Land so leben müssen, wie er es will, ist das dumm. Und wenn dann einige oder sogar viele auf die Straße gehen und laut ausrufen, eine andere Meinung dazu zu haben, und der Präsident diese Menschen als eine Gefahr ansieht und sie am liebsten ins Gefängnis sperren oder sogar auf sie schießen lässt, ist das sehr dumm."

„Aber Großvater, ich glaube, genau das passiert gerade hier bei uns. Genau das, was Du eben erklärt hast."

„Ja Sinan, ich befürchte ja. Leider hat es sehr schnell begonnen, unübersichtlich zu werden, und man weiß nicht genau, wer was will und wer gegen was ist. Aber eines ist sicher, sie werden nicht miteinander reden, um herauszufinden, welcher der beste Weg ist. Und da Du keine Gewissheit hast, wer zu wem gehört und wer etwas weitererzählt, solltest du lieber nicht mit jedem über diese Dinge sprechen. Das zum Beispiel ist etwas, das manche gerne als ein Recht in unserem Land haben möchten. Jeder sollte sagen können, was er denkt, ohne dafür bestraft zu werden. Dies ist bei uns leider nicht so und wird sogar zur Zeit noch schlimmer. Es kann passieren, dass wir alle im Gefängnis landen, wenn Du diesen Satz über den Präsidenten bei anderen aussprichst."

Sinan schluckte. Er hatte noch nie in seinem Leben eine Gefahr erlebt. Noch nie war ihm bewusst gewesen, dass das, was er tat, gefährlich sein könnte. Gut, er musste manchmal befürchten, von Vater oder Mutter bestraft zu werden, wenn er mal wieder etwas angestellt hatte. Aber es gab für ihn, nach seinem Empfinden, keine Bedrohung von außen. Und nun sagte Großvater, dass es plötzlich gefährlich sei, sich Gedanken zu machen. Er bemerkte es nicht, aber der kleine Schatten auf seiner Seele wurde wieder ein kleines Stück größer.

„Großvater, sollen wir denn besser nicht darüber reden?"

„Sinan, das ist schwer zu sagen. Wir sind in einer Zeit, die man einmal Geschichte nennen wird. Und Geschichte hat eine unumstößliche Gesetzmäßigkeit. Erst im Nachhinein weiß man, was gut und was schlecht war. Erst nachdem sich die Dinge entwickelt haben, kann man sehen, ob die Menschen, die zu der Zeit gelebt haben, richtig oder falsch gehandelt haben. Und so ist es schwer zu sagen, wir sollten oder wir sollten nicht darüber reden. Ein wichtiger Punkt ist, sich bewusst zu machen, dass in der Geschichte manchmal die kleinste Kleinigkeit die ganze Welt verändert hat."

„Wie meinst Du das? Soll ich nun oder besser nicht?"

„Sinan, ich kann es nicht sagen. Ich kann nur sagen, man muss vorsichtig sein, mit wem man redet. Aber sich grundsätzlich aus allem herauszuhalten, ist auch nicht richtig. Denn es könnte sich vieles ändern, wenn man den Mut aufbrächte, sich trotz Gefahr einzumischen. Allerdings sollte man sich nicht blind und kopflos in Gefahr bringen."

„Und was meinst Du denn nun mit dem Verändern?"

„Nun ja, ich will Dir eine Geschichte erzählen. Ein Mann lebt in einem Land, in dem gerade ein Krieg gegen die Nachbarn vorbereitet wird. Die Bewohner haben dies schon lange gemerkt - aber jeder, der sich dagegen ausspricht, läuft Gefahr, eingesperrt zu werden. Überall gibt es Spione und keiner traut mehr dem anderen. Der Krieg bricht aus und sehr viel Leid, Tod und Elend kommt über die Menschen - sowohl im eigenen Land als auch in den angrenzenden Gebieten. Dieser Mann ist nun bei der Regierung angestellt, und obwohl er den Krieg nicht gutheißt, so ist er doch seinem Dienstherrn treu ergeben. Er möchte sich nicht einmischen, sondern aus allem heraushalten. Eines Tages sitzt er in seinem Lieblingslokal und hört mit, wie am Nebentisch jemand darüber spricht, dass er ein Attentat plane. Der Krieg könnte beendet werden, wenn der Regierungschef bei dem Anschlag sterben würde. Er dreht sich um und sieht, dass noch ein anderer das Gespräch belauscht. Der Mann verlässt das Lokal und geht nach Hause. Was soll er nur tun? Soll er das geplante Attentat bei seinem Dienstherrn anzeigen? Soll er warten, ob der andere Zuhörer etwas sagt und so das Attentat verhindert? Oder soll er zu den Personen gehen, die das Attentat vorbereiten, um sie zu warnen, dass noch jemand mitgehört hat? Wie er sich auch entscheidet - ob es gut war, wird man erst später in den Geschichtsbüchern lesen können."

Sinan dachte kurz nach.

„Ich finde, er hätte die Regierung informieren müssen. Jemanden zu töten ist doch keine Lösung."

„Da hast Du recht, aber trotzdem wird uns erst die Geschichte zeigen, was ein einzelner Mann durch eine kleine Reaktion verändern kann."

„Versteh ich nicht, bist Du dafür, ein Attentat zu begehen?"

Großvater setzte sich auf, als Sinan ihn das fragte.

„Sinan, ich will Dir nur erklären, dass es sehr schwierig ist, das Richtige zu tun. Dieser Mann entscheidet sich - das ist alles. Was daraus wird, steht nicht in seiner Macht. Du sollst aber wissen, dass es immer besser ist, besonnen darüber nachzudenken, was Du machen wirst. Mehr kann ich Dir nicht raten. Bedenke nur, mit wem Du redest."

„Aber was ist denn nun mit dem Mann? Ich verstehe nicht genau, was Du meinst."

Großvater wusste, es machte keinen Sinn, Sinan jetzt zu verbieten, darüber zu reden. Und es machte keinen Sinn, Sinan mit seinen Gedanken alleine zu lassen. Er hoffte, dem Jungen ein Gleichgewicht zwischen Mut zur Handlung und Klugheit zum Schweigen vermitteln zu können. Sinan wurde erwachsen und somit würde er auch lernen müssen, wie die Welt funktioniert. Er bedauerte, dass Sinan in solch instabilen Zeiten aufwuchs.

„Ich habe diese Geschichte einmal gelesen, ich weiß nicht mehr, ob es sich um eine erfundene oder wahre handelt - aber das ist ja auch nicht der Punkt. Der Mann war ein deutscher Beamter. Und zwar um die Zeit von 1940. Weißt du, worum es da ging?

„Nein, Großvater. Wir haben noch nicht so viel über Europa gelernt."

„Zu der Zeit waren die Nazis in Deutschland an der Macht. Ihr Führer, Adolf Hitler, zettelte 1939 den 2. Weltkrieg an. Der Mann wird wohl nichts gesagt haben und das Attentat hat nicht stattgefunden - Hitler ist erst 1945 gestorben, als der Krieg verloren war. Aber bis dahin sind in sechs Jahren weltweit über 70 Millionen Menschen unter dieser Schreckensherrschaft umgekommen. Hätte der Beamte die Attentäter gewarnt und in Kauf genommen, dass man Hitler tötet, wären vielleicht 70 Millionen Menschen am Leben geblieben. Du siehst, was auch die kleinste unsere Handlungen auslöst, wissen wir nicht. Immer erst viel später, wenn alle anderen Ereignisse sich in einem Ganzen betrachten lassen, erkennen wir, ob unser Handeln oder unser Nichtreagieren besser oder schlechter war. So ist nun mal das Leben, Sinan."

Großvater schloss die Augen. Er hoffte, Sinan hatte verstanden, worum es ging. Er hoffte, dass es in der Zukunft keine Gefahr für die Familie geben würde. Großvater begann leise zu beten.

„Großvater, das ist alles sehr kompliziert."

Sinan schaute ihn an. Der hielt seine Augen geschlossen und Sinan bemerkte, dass er mit Gott redete. Das kannte Sinan. Dann dauerte es, bis Großvater wieder ansprechbar war. Also ging er in die Küche. Trotz allen Erwachsenwerdens und aller Weltpolitik, die er eben noch mit Großvater erörtert hatte, stellte sich etwas Gewohntes ein. Hunger. Und Sinan verinnerlichte eine Erkenntnis, ohne darüber genau nachgedacht zu haben. Er würde dies für den Rest seines Lebens so sehen: Es gibt Dinge, die ändern sich nie.

In der Küche naschte Sinan von den verschiedenen leckeren Sachen, die Mutter für die Geburtstagsfeier vorbereitet hatte. Satt und nunmehr mit sich und der Welt zufrieden, dachte Sinan nun nicht mehr an die Weltgeschichte, an Kriege und die große Politik. Er wollte nach draußen und einfach, wie sonst auch, Kind sein. So war er weg, als seine Mutter und Azra zu Hause ankamen.

„Sinan, Großvater, wo seid Ihr?"

Azra lief durchs Haus. Sinan konnte sie nicht finden, aber Großvater saß auf dem Sofa - er war im Sitzen eingeschlafen. Mutter ging in die Küche und sah das Chaos, das Sinan dort hinterlassen hatte. Nicht nur das schmutzige Geschirr schaute sie an, auch die verderblichen Lebensmittel waren nicht in den Kühlschrank zurückgestellt worden. Drauf und dran, nach Sinan zu rufen, um ihn ordentlich zu maßregeln, ließ sie dann doch davon ab. Die Kinder hatten bereits einen sehr anstrengenden Tag erlebt, da wollte sie nicht noch mehr von ihnen verlangen. Wenn es Sinan gut ging, war das im Moment mehr wert als eine ordentliche Küche. Sie fing an aufzuräumen.

„Mutter, Großvater schnarcht auf dem Sofa und Sinan ist nicht aufzutreiben. Kann ich Sinan suchen gehen?"

Azra stürzte in die Küche und ohne die Antwort der Mutter abzuwarten, war sie schon draußen.

Nachdem Mutter alles wieder in Ordnung gebracht hatte, ging sie zu Großvater. Sie weckte ihn, indem sie ihm über die rechte Hand streichelte, die er auf die Armlehne des Sofas gelegt hatte.

„Wach auf, die Kinder sind draußen, wir müssen unter vier Augen reden. Erzähl mir, was passiert ist und ob Du Neuigkeiten über Amman hast."

Großvater berichtete. Er und Mutter sprachen so lange miteinander, bis sie Sinan und Azra ins Haus kommen hörten. Azra ging zuerst ins Wohnzimmer.

„Ist Baba da?"

„Nein, meine Kleine. Wir werden weiter warten müssen. Aber jetzt wollen wir erst einmal zusammen essen."

Mutter stand auf und Großvater zog Azra zu sich.

„Komm, Azra, ich erzähle Dir eine Geschichte. Sie handelt von Deinem Vater, der zu dieser Zeit so alt war wie Du jetzt."

Sinan war in der Küche, und als er Mutter und deren Blick sah, wusste er, dass er vergessen hatte aufzuräumen. Aber sie sagte nichts. Stattdessen streichelte sie ihm über sein wirres Haar und lächelte.

„Ich bin froh, dass du schon so erwachsen bist, Sinan. Hör zu, Großvater und ich gehen nach dem Essen noch mal weg. Wir wollen sehen, ob wir etwas über Vater erfahren."

„Da geh ich mit. Mama, ich will mitkommen."

„Nein, Du bleibst bei Azra. Und diesmal bitte ich Dich, Sinan: Bleib bei Deiner Schwester und pass auf sie auf. Wir werden versuchen, in die Stadt zu kommen. Aber ich brauche Dich, um sicher zu sein, dass Azra gut aufgehoben ist."

„Azra kann doch bei den Nachbarn bleiben."

„Sinan, ich möchte, dass Du hierbleibst. Und ich werde Dich nicht noch einmal bitten."

Das Thema war damit erledigt, und Sinan fügte sich. Alle aßen noch zusammen zu Abend, und dabei wiederholte Azra die Geschichte über Baba, die Großvater ihr erzählt hatte. Es war eine schöne Stunde, in der sie lachten und die viel zu schnell verstrich. Dann wurde Mutter plötzlich geschäftig, packte eine kleine Tasche und nickte Großvater zu, der sich daraufhin von seinem Platz erhob. Er nahm Azra auf seine Arme und küsste sie. Dann umarmte er Sinan, genau wie bei seiner Ankunft, und sagte zu ihm:

„Ich bin stolz auf Dich, mein Sohn. Ich weiß, Du wirst Deinen Weg gehen. Pass auf meine kleine Prinzessin auf, ja. Wir sind bald zurück."

„Komm, Azra, ich bringe Dich noch zu Bett."

Mutter hielt Azra ihre Hand hin und beide gingen nach oben. Als sie zurückkam, räumte sie noch rasch die Essenssachen weg. Sinan half ihr dabei. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Und dass Mutter nicht geschimpft hatte, machte sein Unterlassen nicht gerade besser. Großvater war nun auch so weit, und Mutter nahm ihre Tasche und küsste Sinan zum Abschied.

„Bleib jetzt im Haus und geh auch zu Bett, es ist schon spät - Du kannst ja noch lesen."

„Ich bin sowieso müde. Aber weck mich bitte, wenn Ihr zurückkommt. Ich möchte auch wissen, was mit Baba ist."

„Gut, wir werden Dich wecken", sagte sie.

Sinan schickte sich an, nach oben zu gehen. Tatsächlich überkam ihn eine große Müdigkeit. Er hatte den ganzen Tag nicht gespielt und trotzdem war er allein vom Warten sehr erschöpft. Als er schon auf der Treppe stand, sagte Mutter noch etwas zu ihm, das ihn wieder hellwach werden ließ.

„Lass Deine Sachen an. Deck Dich nur zu."

Was sollte das denn? Befürchtete Mutter doch, dass etwas passiert war? Mussten sie vielleicht schnell hinaus? Sinan schob seine Gedanken beiseite und ging zu seinem Zimmer. Er wollte sich gerade mit einem Sprung in sein Bett werfen, da stockte er. Im fahlen Licht der Lampe im Flur sah er unter seiner Decke eine Gestalt liegen. Azra hatte sich in sein Bett geschlichen. Das machte sie manchmal immer noch. Als kleines Kind schlief sie oft bei ihm im Bett und bekam von Sinan Geschichten und Märchen erzählt. Azra hatte dann ihre kleinen, kalten Füße an seine Beine geschmiegt und sich gewärmt.

Er kroch von der Seite unter die Decke zu Azra. Sie erwachte.

„Sinan, ich habe geträumt. Wir waren wieder am See und die vielen Panzer kamen durch die Luft geflogen. Zuerst sahen sie so schön aus. Wie die Vögel, wenn sie im Herbst und im Frühling über das Wasser und die Berge ziehen. Weißt Du noch? Wie ein Pfeil fliegen sie nebeneinander her. Plötzlich wurden die Vögel aber zu diesen großen Dingern mit den Kanonen dran. Sinan, dann sind sie gelandet und ich bin weggelaufen. Gelaufen und immer weiter gelaufen. Bis ich aufwachte. Ich habe mich aber nicht zu Euch nach unten getraut. Stattdessen bin ich in Dein Bett gekrochen. Bist Du mir böse?"

„Nein, kleine Azra, da hast Du ja schön mein Bett gewärmt. Dafür danke ich Dir."

Er lächelte seine kleine Schwester an. Er liebte sie so sehr.

„Komm, mach ein wenig Platz, Du bleibst heute Nacht bei mir."

Er wusste nicht genau warum, aber er hatte das Gefühl, es wäre besser, Azra ganz in seiner Nähe zu haben. Yara, Azras Puppe, kuschelte sich an Azra. Azra kuschelte sich an Sinan.

Nach wenigen Minuten schliefen beide Kinder. In der Nacht hörten sie nicht, wie jemand unten leise an die Haustür klopfte. Es hatte begonnen.

Sinan erwachte als erster. Es war noch nicht hell geworden. Unten im Haus redeten Menschen. Er richtete sich etwas auf, um sie besser verstehen zu können.

„Was ist denn? Ist Vater wieder da? Ich bin noch soooo müde."

Azra streckte ihre kleinen Arme unter der Decke hervor und rekelte sich. Dann suchte sie nach Yara, die irgendwo darunter vergraben war.

„Komm, Yara, wir gehen zu Baba."

Noch bevor Azra aus dem Bett springen konnte, hatte Sinan sie gepackt.

„W

Aw: Das ich da stehe und weine.

Hallo Methaphysiker.

Du hast es sehr gut gemeint, und hast Dir sehr große Mühe gegeben. Zum Teil ist die Beschreibung der beiden Kinder und ihrer Interaktion – losgelöst vom Kontext – auch wunderbar gelungen.

Leider handelt es sich um ein parteiisches Propagandastück.

Nur sehr kurz: Beim Bürgerkrieg geht es um die Rebellion der Sunniten gegen die Vorherrschaft der Alawiten. Die Alawiten fürchten zurecht um ihre Existenz. Die Sunniten (ein Teil von ihnen) wollen keine „Ketzerherrschaft“. Die von Dir im Text eingesetzten Vokabeln aus der französischen Revolution sind ein Fremdkörper. (Benutzt werden sie von Galionsfiguren im Gespräch mit dem Westen.) Die sunnitischen Kinder sind indoktriniert in der jeweiligen Lokalideologie, stellen keine Fragen, schon gar keine solche. Ein sunnitisches Mädchen denkt nicht einmal im Traum, die Vorherrschaft des Bruders infrage zu stellen. Die Nazis sind in Syrien die guten, weil sie die Juden bekämpften. Dafür werden die Deutschen noch heute bewundert.

Einen Extra-Krieg gegen alle führt der IS. Einen Abwehrkrieg gegen die Araber führen die Kurden. Die Türken intervenieren (mit dem Vorwand, den IS eindämmen zu wollen) gegen die Kurden. Die Iraner unterstützen die Alawiten, weil es den Alawiten gelungen ist, als Teil der Schiá betrachtet zu werden.

(Sogar Bassam Tibi, Sprößling einer aristokratischen Familie und partiell westlich erzogen, war voller Judenhaß, als er nach Deutschland kam, und überwand ihn erst nach und nach in Deutschland.)

Auch sonst zeichnest Du die Bevölkerung als naiv und unparteiisch, bzw. freiheitsliebend etc. Mit der dortigen Realität eines religiösen und am Rande ethnischen Krieges hat es nichts zu tun.

Ich freue mich völlig Anderes von Dir in Zukunft zu lesen, weil Dir die vignettenartige Beschreibung der Kinder – wenn auch für Syrien ganz und gar unrealistisch – im Grundsatz sehr schön und von leichter, beobachtender Hand gelang.

Bis dann

Abifiz

Aw: Das ich da stehe und weine.

Nachtrag

Nebenbei noch: Störend im Titel die Verwechselung von „das“ und „dass“.