Als wäre es mein Tattoo

Hallo Freunde des Lyrischen.

Um diesen Text einer Art Liedes der Wut, des Hasses, der Verzweiflung und der Schuld habe ich zwei Monate lang meine aufwühlenden Zweifel gehabt.

Das muß ich nun erklären:

Ich bin sehr alt. In meinem Leben habe ich – neben den vielen Sachtexten – Lyrik und Prosa um das Leben meiner jüdischen Familie (bzw. das Leben der Familien, aus welchen meine entstand) zwischen 1837 und 1924, sowie 1938 und 1949 verfaßt. Einige wenige Texte drehen sich darüber hinaus um die Jahre 1488 und 1513 noch in Spanien.

Das meiste habe ich in Ladino verfaßt - auch Djudezmo, bzw. später Dalmatinischer Djudezmo genannt. Einiges auch auf Hebräisch, Latein, Spanisch, Italienisch, Französisch, Englisch und auch eben auf Jiddisch und Deutsch.

Etliches schien mir bisher zu aufwühlend für eine Veröffentlichung. Ich bin ein Scheuer geblieben, trotz der Verantwortungen, die ich beruflich getragen habe.

Durch vier in der Vergangenheit durchgestandene Hochdosis-Chemotherapien und die längeren Narkosen vieler Operationen ist das Paradoxon entstanden, daß ich mich danach bei einigen meiner eigenen literarischen Texte (einschließlich der Briefe) nicht mehr erinnert habe, sie geschrieben zu habe. Nur die Tatsache, daß sie in meiner Schrift mit den vielen Korrekturen zu lesen waren; dann ihr Kontext und ihr Inhalt, sagten mir, „Das - mein lieber alter Mann - hast du selber zu Papier gebracht!“

Als ich vor Jahren auf diesen lyrischen Text gestoßen bin, hat mich also nicht der Aspekt stutzig gemacht, daß ich mich nicht daran erinnern konnte, ihn je niedergeschrieben zu haben, sondern der Umstand, daß er mich allzusehr an Walt Whitman erinnerte; er damit auch wohl eine Übersetzung meinerseits hätte sein können. Dies, obwohl es durchaus einen geschichtlichen Kontext dazu gab, welcher die Ballade als von mir verfaßt hätte ausweisen müssen.

Ich habe dann zwei Monate lang recherchiert und mußte einsehen: ist tatsächlich von mir. Außerdem mußte ich bei meinen Recherchen feststellen, daß Whitman im Sezessionskrieg in Wahrheit nie selber einen Schuß abgegeben hat.

Es bleibt dabei: Abifiz hat hier unter dem Einfluß Whitmans zu dichten versucht. Wahrscheinlich (ich habe nämlich auch datierte Papiere der selben Material-Beschaffenheit bei mir entdeckt) zwischen 1960 und 1961 geschehen.

Zum Inhalt:

Drei meiner männlichen Vorfahren hatten auch junge Männer geliebt, nicht nur Frauen. Sonstige Hinweise deuten hier auf den älteren Bruder meines Ur-Ur-Großvaters, als Oberst der Reserve eine k.u.K.-Kavallerie-Einheit 1859 in der Lombardei befehligend. Er verliebte sich in einen einheimischen Scout seiner Einheit, der in Wirklichkeit jedoch im piemontesischen Sold stand, und eine Schwadron in einen Hinterhalt führte, welcher mehr als der Hälfte der Männer das Leben kostete.

Bei einer späteren Begegnung erschoß mein Groß-Onkel in einem Scharmützel den Verräter, was ihm sein restliches Leben lang ein peinigender, steter Alptraum blieb.

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**Als wäre es mein Tattoo **

Bestrickende Lügen von trunkener Liebe
formte er mit flinken Händen
nur für mich
Lügen rissig
Lügen spröde
durch Wahrheitswucht zerbrochen
sang mir von seinen Träumen
durch die Last entkräftet
der allzu jungen Jahre Last
achtzehn hatt’ er mir verraten

Sonnen-helle
stumme Zeugin
welche ihn sah
nicht anblicken mehr werd ich können
welche ihn sah anflehen
meiner richtenden Waffe
zum Lauf sich streckend
zu leben
hungrig
un-ereilbarem Ufer nach

mir erinnert seiner Hände
flink
mir erinnert lockenden Rufs
trunken
fernster Horizonte unsichtbarer Berge
zu leben
hungrig
Träumer
dürstend

meiner Enttäuschung Brandwunde
meines Alters Brandmal
zu lesen eingeritzt
der Haß
lodert noch in meinen Zügen
spüre ich noch den Schauder
zu Dir die Schuld auf-deckend
Lügner
hungrig
Träumer
dürstend

ich trag es als ob es wäre
ein Tattoo
wie mein Tattoo
trag es in mir
ich trage mein Tattoo

mein Tattoo

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Ein vielleicht sehr bemühtes Wortspiel, aber: Das geht unter die Haut.

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Du läßt uns zu selten an deinen Texten teilhaben :slight_smile:

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Das ist gut, Abifiz. Ein ganz starkes Gedicht. Aber verstehen kann man es nur im Kontext Deiner Erklärung zuvor. Ich würde mir wünschen, es eingebettet in andere Texte zu finden. Eventuell eine Mischung von dichter Prosa und Lyrik, die das Thema von verschiedenen Seiten betrachten.

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Kommt gerade etwas Ähnliches und zugleich sehr, sehr Verschiedenes.

Abifiz, du hinterlässt mich, mal wieder sprachlos.

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Ich habe deinen Beitrag gerade erst entdeckt (bin jeden Tag nur sporadisch im Forum unterwegs und picke mir das ein oder andere heraus).
Also, ich möchte dir nur sagen: Auch ohne die Hintergrundinformationen, die du uns gegeben hast, lässt dieser Text weite Welten von sprachlosen Bildern in mir entstehen. Danke.

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Habe den Thread auch gerade erst entdeckt. Nun sitze ich vor dem Bildschirm und empfinde verwirrende Gefühle. Eine große, innere Ruhe, die gleichzeitig gegen die Spannung, resultierend aus den Bildern, welche dein einleitender Text und schließlich dein Gedicht, in mir hervorbringen, ankämpft. Ich kann es nicht gut beschreiben, scheint mir. Aber bei mir ist es nicht Sprachlosigkeit, sondern ein Staunen. Du hinterlässt Eindrücke, massive Eindrücke. Mit denen muss man (oder zumindest ich) erst mal lernen umzugehen.

Dem kann ich nur zustimmen!

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Sehr gutes Gedicht und ein passen gewählter Titel „Als wäre es mein Tattoo

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